„Entspannung steht an erster Stelle.“
Hannover-Langenhagen. Olaf Pachten führte das Interview bei Detlef Zimmermann zu Hause durch, in einem altem Fachwerkhaus. Nicht weit hinter dem Haus beginnen die Felder und Pferdekoppeln. Als Olaf eintrifft, kommt Detlef gerade vom Joggen zurück. Er war, wie man ihn kennt, gut aufgelegt und hatte spürbar Spaß am Interview. Immer wieder kommt der für ihn typische Humor durch.
Wo bist du eigentlich aufgewachsen, Detlef?
In Hannover-Bothfeld.
Wie hast du generell mit Sport angefangen? Hast du vor der Kampfkunst noch andere Sportarten gemacht?
Ja, ich war mittelmäßig sportlich. Ich habe mal eine Zeit lang Fußball gespielt, aber nur Jugendfußball. Dann habe ich im normalen Sportunterricht am liebsten nur die leichtathletischen Sachen gemacht. Geräteturnen und so, das ist mir immer noch zuwider (lacht). Ja, aber sonst war ich mittelmäßig sportlich.
Wann hast du mit Kampfkunst oder Kampfsport angefangen?
Das war 1976. Durch dieses Ereignis mit den Hooligans in der Straßenbahn.
Was für ein Ereignis mit Hooligans?
Ich war ja eigentlich ein gewaltfreier Friedensapostel. Wir waren damals sogenannte Freaks, meine Kindheit verlief glücklich und ich hatte mit Gewalt nie was am Hut. Freaks waren so eine Mischung aus Rockstar und Hippie (lacht). Es gab dann noch die Rocker, die Popper und die Hippies und dann gab’s die Normalos, wie immer man die auch einordnen soll. Wir waren auf jeden Fall Freaks, wir waren an Gewalt nicht interessiert. Sex, Drugs and Rock’n’Roll waren für uns angesagt und Friedensmärsche. Damals bin ich mal mit zwei Kumpels in der Straßenbahn nach Hannover reingefahren. Die Straßenbahn war nicht voll und wir drei saßen da und haben gelacht, wie immer, haben Scherze gemacht. Am Ende der Straßenbahn, auf der anderen Seite, da stand eine Gruppe Hooligans. Das waren drei Typen, echte Schränke‚ eine Frau, die dazugehörte, und ein kleiner zwölfjähriger Junge. Die unterhielten sich, waren Hannover-Fans und schrien rum. Und da kam dieser Zwölfjährige auf mich zu – ein Unsympath – und fragt, warum wir denn so lachen würden. Auf mich kam er zu! Und ich war sofort völlig gedemütigt, weil ich Angst hatte. Da kommt so ein Zwölfjähriger auf mich zu, den ich auch, obwohl ich gewaltlos gelebt habe und nichts mit Schlägereien zu tun hatte, natürlich irgendwie hätte besiegen können. Aber da standen ja noch diese Schränke, und der eine, der guckte auch schon. Und da wurde ich richtig klein und habe mich demütigen lassen. Der hat mir nichts getan, aber dieses Gefühl. Ich habe dann über Hannover 96 das Gespräch angefangen und irgendwie die Gefahr so herausgenommen. Dann sind die auch, Gott sei Dank, ausgestiegen, aber die Bahn fuhr erstmal nicht weiter. Und dann redete der Junge mit einem von diesen Schränken, und der macht die Tür einfach wieder auf und kommt rein. Und da habe ich am ganzen Körper gezittert, richtig gezittert. Und der stellte sich dann so vor mich, aber da rief diese Frau: „Lass den doch zufrieden!“ Und da ist der dann auch einfach wieder rausgegangen. Aber ich war so am Ende, für mich war das ein traumatisches Ereignis! Ich habe so eine Angst gehabt, dass mein ganzer Körper gezittert hat, und da habe ich mich entschlossen, so was darf dir nie wieder im Leben passieren. So bin ich dann zum Kampfsport gekommen. Und gleich am nächsten Tag bin ich zu verschiedenen Schulen. Damals gab es hier in Hannover noch nicht so viel, Taekwondo habe ich mir angeguckt und Karate und bin dann zu Martin Höft, da habe ich dann angefangen. Mit Karate und Ju-Jutsu, hauptsächlich Ju-Jutsu.
Martin Höft ist einer der Ju-Jutsu-Pioniere in Hannover gewesen, oder?
Er war einer der ernstzunehmenden Ju-Jutsu-Meister. Und hat viel für das Ju-Jutsu getan. Er hat Ju-Jutsu, auch durch den Kontakt zu Manfred, ein bisschen modifiziert. Also es wurde alles ein bisschen lockerer, nicht mehr so hart. Er hat sich aber nie so richtig vom Ju-Jutsu lösen können. Aus der heutigen Sicht verstehe ich das nicht, weil spätestens als er dann mit Manfred mehr Kontakt hatte und auch mit Casey, da hat man ja gesehen, dass es da noch etwas gibt, was einfach höherwertig ist, sag ich mal.
Warum bist du damals bei ihm geblieben? Hat dich das Ju-Jutsu begeistert oder war er es als Person, die dich so angesprochen hat?
So eine Mischung. Ju-Jutsu war für mich interessanter als nur eine Sache zu lernen, weil es mehrere Sachen beinhaltete: Karate, Judo und Aikido. Da waren gleich drei Sachen mit drin (lacht). Und Martin machte auf mich einen kompetenten Eindruck, es stimmte irgendwie alles. Und dann habe ich halt wie ein Irrer Ju-Jutsu trainiert.
Bei Martin Höft hast du dann auch Dan-Prüfungen gemacht und bist relativ lange dabei gewesen, oder?
Ich war, da bin ich ein bisschen stolz drauf, auch ein Vorzeigeschüler bei Martin Höft. Ralf Behne und ich, wir waren seine Aushängeschilder, möchte ich mal sagen. Wir haben aber auch trainiert wie verrückt. Für mich war auf einmal Kampfsport das Wichtigste im Leben. Ich hatte damals auch angefangen zu studieren, aber der Kampfsport war einfach mein Ding. Zack! Ich habe plötzlich dadurch auch verstanden, was für mich gut ist. Ich habe aufgehört, Drogen zu nehmen usw., habe mich voll auf Kampfsport konzentriert und mich da richtig hochgearbeitet. Ich begann auch relativ früh, selber zu unterrichten. Dadurch, dass Martin ein guter Lehrer war, habe ich schon nach zwei Jahren angefangen, selber Unterricht zu geben.
Wie alt warst du da?
Ich habe mit Ende 17 angefangen. Manche sagen, das ist für Kampfsport zu spät, aber das ist völliger Quatsch, es ist nie zu spät. Und ich habe dann, wie gesagt, trainiert wie ein Irrer, hatte wohl irgendwie auch Talent dafür und bin relativ schnell in der Szene aufgestiegen.
Wie kam dann der Kontakt zu Manfred zustande?
Also der Kontakt zu Manfred kam über zwei Ereignisse. Zum einen war auf der IGS Roderbruch eine Ute Steiner Lehrerin, die war mit Manfred befreundet, die kannte ich auch. Aber hauptsächlich natürlich durch den Kontakt von Martin zu Manfred. Martin hat mit uns neue Räumlichkeiten gesucht, als damals die Schule in der Gerberstraße, in der ich angefangen habe, dicht gemacht hat. So sind wir in Manfreds Schule gegangen, die damals noch Einzelkämpferschule hieß. Manfred war ja beim Militär Einzelkämpferausbilder und Schießausbilder usw. und hat eine private Einzelkämpferschule im Großen Kolonnenweg aufgemacht. Da sind wir dann mit rein und dadurch habe ich Manfred auch von der Kampfsportseite her kennengelernt.
Als wir dann in der Schule waren, war auf einmal Casey da. Casey kam nach Hannover und ich habe nebenbei bei Martin Höft, der einen Kampfsportartikelladen hatte, gearbeitet. Casey hatte Kontakt zu Kampfsportlern in Hannover gesucht und ist durch den Laden auf Martin gekommen. Und da saß ich in diesem Geschäft und da kam Casey rein. Ich wusste natürlich nicht, wer das ist. Ich konnte kaum Englisch und er hatte sich dort mit Martin verabredet. Und dann habe ich etwas gebrochene Konversation mit ihm betrieben. Er hatte mir schon damals seine Bücher gezeigt und obwohl er ganz unscheinbar auf mich wirkte, hatte ich schon das Gefühl: „Das ist ein besonderer Mensch.“ Ganz komisch. Er erzählte dann, soviel ich verstanden habe, ein bisschen von seiner Geschichte und dann kam irgendwann Martin und da war die Sache dann für mich erledigt. Die beiden sind dann miteinander weggegangen. Das war der erste Kontakt zu Casey und das war dann auch der Punkt, ab dem sich das Training bei Manfred veränderte.
Hast du damals schon bei Manfreds Training mitgemacht?
Nein, wir haben immer noch Ju-Jutsu gemacht. Aber wir guckten ja schon immer mal und ich habe auch mal mit reingeschnuppert. Das war alles ein bisschen lockerer und die Techniken waren direkter usw. Und ich merkte schon, da findet eine Veränderung statt. Manfred hatte direkt mit Casey trainiert ab dem Zeitpunkt, als Casey in Hannover auftauchte und mit Martin und Manfred Kontakt aufgenommen hatte. Man sah die Veränderung an Manfreds Gruppe. Das muss aber innerhalb von einem halben Jahr passiert sein, weil ich ziemlich schnell mit Ju-Jutsu aufgehört habe, als ich sah: „Mensch, was machen die denn da?“ Den entscheidenden Kick bekam ich dann auf einem Lehrgang mit Wally Jay. Wally Jay kommt ja vom Jiu Jitsu und hat da seine Small-Circle-Theory aufgestellt. Nicht Theorie – Stil! Kurze Hebel, die über innere Mechaniken ablaufen. Deshalb hatte Wally Jay auch diese Verbindung zu Casey. Linien und Winkelkontrolle und innere Prinzipien. Über Manfred, Martin, Casey und Jiu Jitsu kam es zu diesem Wally-Jay-Lehrgang. Allein was Wally Jay gemacht hat, war schon völlig beeindruckend. Aber am Rande des Lehrgangs bin ich dann mal zu Manfred gegangen und habe mit ihm einfach so über irgendwas gesprochen. Dann hat er mir eine Sache gezeigt und das war, als ob der Nebel weggeht. Anders kann ich das nicht beschreiben. Das hat mich so überzeugt, dass ich nahezu direkt den schwarzen Gürtel ablegte und dann richtig bei Manfred angefangen habe. So war das. So bin ich zu Manfred gekommen und man kann sagen, ich war besessen von dieser Sache.
Als du dann angefangen hast, mit Manfred zu trainieren, womit habt ihr begonnen? Hat er mit einem Stil angefangen, beispielsweise mit Wing Chun, Hsing-I oder Bagua, oder ging das alles durcheinander?
Sag ich nicht! (lacht lange) Nein, am Anfang muss man sagen, war es noch so eine Mischung aus external und internal. Weil Manfred ja selber noch von Casey gelernt hat. Wir haben eigentlich relativ früh mit Wing Chun angefangen, haben aber zwischendurch immer schon diese Kai Sai Geschichten und Hsing-I gemacht, hauptsächlich aber Wing Chun. Weil Wing Chun damals so populär war. Das kam gerade auch auf den deutschen Markt und Casey konnte natürlich auch Wing Chun. Der hatte das mit Lo Man Kam und Taki Kimura gemacht. Und deshalb hat Manfred sich wohl auch erstmal hauptsächlich für Wing Chun interessiert. Darum haben auch wir viel Wing Chun gemacht, am Anfang mit wenig Ansätzen zu diesen inneren Stilen. Und wenn ich mich so erinnere, waren diese Prinzipien am Anfang auch gar nicht so im Vordergrund. Vielleicht sind diese zehn Prinzipien von Casey auch erst später formuliert worden. Es ging schon damals mehr darum, dass man die Linie hält. Linien und Winkelkontrolle waren wichtig, dass man verwurzelt, dass man nicht einfach nur einen festen Stand hat, sondern dass man das Gefühl hat, sich sinken zu lassen. Dass man sich mehr entspannt, das stand auch schon im Vordergrund und das waren meiner Meinung nach die ersten Ansätze vom Inneren Boxen. Obwohl Einiges aus heutiger Sicht auch noch external abgelaufen ist. Vor allem, wenn wir Armpounding gemacht haben oder Ironman. Da ging es wirklich nur um Abhärtung. Das war alles noch – im positiven Sinne – ein wenig militärisch. Damit man auch einstecken lernte, dass man Schmerzen verdrängen konnte.
Wie viele Schüler waren das zu der Zeit ungefähr, die bei Manfreds Training mitgemacht haben?
Wir waren zwei Gruppen. Wir waren der engere Kern, der bestand nur aus sechs bis sieben Schülern, und dann der große Teil, die Leute, die Wing Chun machen wollten. Das waren schon ganz schön viele. Und dann die Privatgruppe, das war eine Vierer-, Fünfer-Gruppe. Manchmal habe ich auch Training nur mit Manfred gemacht. Manfred hatte viele Schüler, aber wenige Meisterschüler. Ich kann mich in der ersten Zeit hauptsächlich an Wing Chun erinnern und dann an Hsing-I. Dann an ein abgespecktes Wing Chun, welches schon in die Richtung Jun Fan Gung Fu ging. Wir haben zwar alle Wing Chun Formen gelernt und auch die Holzpuppenform, aber wir haben auch den Five Hand Blitz gemacht. Das war eigentlich dieses abgespeckte Jun Fan, das Bruce Lee aus dem Wing Chun gemacht hatte. Das haben wir auch gemacht. Es waren viele verschiedene Einflüsse, aber trotzdem war es immer eine Richtung. Man könnte jetzt denken, die haben ja hundert Stile gelernt, da kommt man ja völlig durcheinander! Und manche kamen auch damit durcheinander. Aber die Leute, die schon mehr unsere Prinzipien in den Vordergrund gestellt hatten, die kamen damit dann gut klar.
Wann hast du mit Tai Chi angefangen?
Als Manfred mit Tai Chi angefangen hat, glaube ich.
Das muss sich ja erstmal ziemlich stark von dem unterschieden haben, was ihr vorher gemacht habt.
Ja, wie gesagt, am Anfang war es eine Mischung aus external und internal, mit 70 Prozent External-Anteil. Und das wandelte sich langsam. Es wurde immer mehr internal. Und als wir Hsing-I trainiert haben, als den ersten echten inneren Stil, hatte ich das erste Mal das Gefühl, dass ich nicht die Technik lerne, sondern mich selbst erfahre. Dass man sich selbst kennenlernt, nicht den Stil. Also seine eigenen Mechaniken und Energieflüsse. Und das war für mich auch schon wieder ein deutlicher Unterschied zwischen internal und external. Im Hsing-I haben wir ja auch zuerst nur die Elemente gemacht. Die ganzen Tiere, die habe ich erst Jahrzehnte später durch Cravens dazugelernt. Wir haben wirklich nur die Elemente und Elementwandlungen geübt. Und das war gut, der richtige Einstieg ins Internal, weil man dabei wirklich mit Wenig viel erfahren hat. Durch die Prinzipien des Mind Hit Boxing, durch das Körper-Geist-Boxen Hsing-I. Und dann muss Manfred irgendwann auch Tai Chi von Casey gelernt haben. Er fing plötzlich an, seine Tai Chi Übungen zu machen, und wurde plötzlich ganz weich und zart. Da habe ich ihn gleich drauf angesprochen und er merkte, dass ich mich auch dafür interessiert habe. Er hat dann einen Lehrgang im Little China Town bei Klaus Kothe gegeben. Eine Mischung aus Einzelkämpferunterricht, Internal- und External-Kampfkunst. Mit Nachts-Aufstehen und Barfuß-Rausgehen und so. Auf dem Lehrgang, in den Pausen, da habe ich ihn immer mal nach dem Tai Chi gefragt und dann ist er mit mir rausgegangen auf den Hof und hat mir die ersten Tai Chi Übungen gezeigt. Das weiß ich noch wie heute. Die ersten Bewegungen damals aus dem Yang Tai Chi. Und da habe ich dann noch mal gedacht: „Das möchte ich auch lernen.“ Ich weiß nicht, wie weit Manfred im Tai Chi war, er war immer ein Stück voraus, aber ich glaube, dass er das auch gerade bei Casey gelernt hat, und dann hat er – ich hab ja damals auch den Tai Chi Unterricht bei Manfred in der Schule gegeben – Tai Chi direkt an mich weitergegeben. Ich war auch mit der einzige, der sich für Tai Chi speziell interessiert hat. Die anderen wollten alle nur töten (lacht lange).
Mir kommt das alles so vor, als ob das innerhalb von einem Monat passiert ist. Wenn ich bedenke, dass ich 1976 angefangen habe. Ich weiß nur, dass ich dann wie besessen bei Manfred trainiert habe und ehrgeizig war bis zum Gehtnichtmehr. Ich wollte immer mit der Beste sein, ich wollte immer gelobt werden. Ich hatte unterschwellige Konkurrenzkämpfe mit den anderen Meisterschülern. Der eine war in dem besser, der andere war in etwas anderem besser. Aber ich wollte es wissen! Ich hatte das Ziel. Für mich war nicht der Weg das Ziel, sondern ich hatte das Ziel, ein Innerer Boxer zu werden. Ich wollte diese Prinzipien beweisen können. Und der Weg dahin. Ich hab das immer so gesehen: Ich habe das Ziel und auf dem Weg suche ich mir das, was zum Ziel führt. Es ist ein Weg, aber ich wollte Innerer Boxer werden! Das hat Manfred wohl auch gemerkt. Obwohl ich eher ganz anders war als Manfred, auch noch als ich mit Kampfsport anfing. Ich war trotzdem friedliebend und gewaltlos. Ich habe durch ihn gemerkt, dass es notwendig ist, kämpferische Attribute in sich zu kultivieren. Manfred hat mich immer irgendwie besonders mit in sein Training eingebaut. Ich durfte dann auch mit in die Privatstunden von ihm, wir hatten unter vier Augen Unterricht, das war ein Privileg für mich. Und das gipfelte in dem Höhepunkt, als er aufhören wollte und mich fragte, ob ich seine Schule übernehmen wolle. Ich weiß nicht, ob du dir vorstellen kannst, was das für mich bedeutet hat. Der, der das wollte, der Innerer Boxer werden wollte, der, der das wie ein Besessener trainiert hat, wird dann als Krönung damit belohnt, die Schule seines Meisters zu übernehmen. Mannometer, sag ich mir, mannometer! Ich habe den Anruf noch auf einer Kassette, damals gab es ja noch keine digitalen Anrufbeantworter, sondern da musste man noch eine Kassette reinstecken, und ich weiß noch, wie ich nach Hause kam und die Kassette abhörte und dann kommt: „Hallo Detlef.“ Manfreds Stimme. „Ruf mich mal bitte zurück, ich muss mit dir sprechen.“ Aufgelegt! Das war der Anruf. Und dann hat er mich gefragt, ob ich die Schule übernehme. Ja, das habe ich dann gemacht, wie man weiß.
Ab dem Moment ist das dann für dich auch ein richtiger Vollzeit-Job geworden.
Das war es ja auch schon vorher! Ich habe immer irgendwas studiert, vier verschiedene Sachen angefangen. Zum Beispiel habe ich Sozialwissenschaften studiert und sogar das Vordiplom gemacht. Aber Kampfsport war für mich das Wichtigste im Leben. Denn ich habe ja auch schon Geld damit verdient. Ich hatte im Hochschulsport Unterricht gegeben, ganz früh mit Ju-Jitsu sogar schon. Und dann hatte ich private Gruppen und das wurde immer mehr und ich habe gemerkt: „Mensch, was ist denn jetzt los, du kannst doch nur das machen!“ Und als Manfred mir dann die Schule übergab, da war es für mich klar, das ist jetzt mein Ding, ich mache nichts anderes mehr. Mit dem Risiko, beim Sozialamt zu landen. Damals war der Markt ja auch noch offen, ich hatte teilweise hundertzwanzig Schüler. Da konnte man noch richtig gut von leben. Heutzutage ist es schwierig. Da musst du schon gucken, wie du klar kommst. Denn das Innere Boxen ist nie massentauglich gewesen und ist es bis heute nicht! Als ich damals die vielen Schüler hatte, unterrichtete ich Wing Chun. Das wollte jeder lernen. Wing Chun war das Ding! Und unser Wing Chun war ja auch besonders gut, muss man dazu sagen (lacht). Deshalb hatte ich auch so viele Schüler. Ich habe das gemerkt, als ich mich dann von diesem ganzen External-Teil getrennt habe – Wing Chun muss man als Brückenstil sehen, aber doch 70 Prozent external. Da wurden die Schülerzahlen weniger. Weil man sich bei den inneren Stilen mit sich selbst beschäftigen muss. Man kann nicht nur das nachmachen, was der Meister sagt oder zeigt. Und damit kommen viele Leute nicht klar. Deshalb hat Manfred ja damals schon gesagt: „Inneres Boxen werden immer nur wenige machen.“ Das ist einfach so!
Du bist dann mit den Jahren immer stärker in der Tai Chi Gemeinschaft angekommen. Da hat sich ja schon Einiges verändert, vom Wing Chun über Internal Martial Arts und weiter zum Tai Chi.
Tai Chi hat mich immer auch fasziniert, weil ich mich mit der chinesischen Philosophie immer mehr beschäftigt hatte, Taoismus und so, und weil Tai Chi natürlich eng mit dieser Philosophie in Verbindung gebracht wird. Und wie man diese Körperlichkeit dahingehend kultiviert, dass Yin und Yang tatsächlich stattfinden. Ich bin über das Kämpferische zum Tai Chi gekommen und habe dann gesehen, dass gerade auch der gesundheitliche Aspekt durch das kämpferische Tai Chi forciert wird.
Wie hast du den Zugang zum Tai Chi für dich gefunden?
Ich habe Tai Chi gelernt, weil ich es immer faszinierend fand. Von dem Moment an, als ich es gesehen und selber auch gespürt habe. Ich war aber auch immer ein Vertreter des ganzheitlichen Tai Chi, was es heute ja so nicht mehr gibt. Ich sage mal fast 90 Prozent aller Tai Chi Betreibenden machen nur noch diesen Gesundheitsaspekt, diesen, wenn man so will, heilgymnastischen Aspekt. Da kann man ja auch nichts dagegen sagen. Aber für mich ist echtes Tai Chi das, was es ist, nämlich Kampfkunst. Und der Gesundheitsaspekt wird durch den Kampfkunstaspekt erst richtig forciert, denn wenn man im Kampf hart bleibt, findet der Gegner harte Punkte und kann dann seine Energie übertragen, und Tai Chi nimmt die Energie. Anders herum kann man durch diese Entspannung natürlich seinen Körper viel besser spüren, kann seine inneren Mechaniken viel besser kultivieren, die Energieflüsse usw. und kann dann die festen Punkte des Gegners mehr erfühlen, mehr erspüren und angreifen. Wenn man das jetzt zusammen nimmt, wenn die Hauptprinzipien im Tai Chi Verwurzelung, Entspannung und Zentrierung sind, die ständig aufrecht erhalten werden müssen, dann profitiert natürlich der Gesundheitsaspekt. Wunderbar! Was gibt es besseres, als in einer zentrierten und normalen Haltung entspannt durchs Leben zu gehen? Und das auch noch unter Druck! Nicht nur unter tatsächlichem Druck in der Kampfkunst, sondern auch unter psychischem Druck. Die Beschäftigung mit sich selbst, die ja im Tai Chi bedingungslos ist – du musst dich mit dir selbst beschäftigen, sonst lernst du kein Tai Chi. Das findest du in kaum einer anderen Disziplin. Dadurch, dass du, während du trainierst, in dieser Zeit bei dir bist. Wirklich nur bei dir und bei der Idee, die Prinzipien in dir zu finden und zu kultivieren. Dabei entspannt sich auch der Mind und wird nicht mehr so angreifbar. Ich habe natürlich auch ein normales Leben, Familie, drei Kinder, Sorgen, Ängste und, und, und. Wie jeder normale Mensch. Aber ich kann davon loslassen. Wenn mich jemand angreift, dann blockiere ich nicht, dann verhärte ich nicht, sondern ich lasse los. Die Energie und die Kraft wirken dann nicht mehr gegen mich. Und das hat mich am meisten Tai Chi gelehrt. Ich sage allen, Schüler oder Schülerin, sie sollen den Kampfkunstaspekt zumindest verstehen lernen, damit sie Tai Chi verstehen. Wenn sie dann die Bewegungen in der Anwendung sehen, dann haben sie einen besseren Zugang zu dem, was sie da machen. Ich kenne Tai Chi Leute, die wissen gar nicht, was sie da machen. Die könnten auch tanzen gehen, das wäre das gleiche. Aber wenn man weiß, was man da macht, und wenn man darauf achtet, wie die Wege im eigenen Körper sind und die Energieflüsse, dann hat man ein ganz anderes Verständnis, eine ganz andere Selbstwahrnehmung. Man passt mehr auf sich auf. Und durch dieses „Mehr-auf-sich-Aufpassen“ lernt man die Prinzipien des Tai Chi auch wirklich kennen.
Was sind für dich die zentralen Übungen, um einen guten Zugang zu dir selber und zu diesen inneren Energien zu bekommen?
Also über allem steht Entspannung. Das ist das wichtigste Prinzip überhaupt. Jetzt sag aber mal einem einfachen Menschen, der zu dir kommt: „Entspann dich“ (lacht). Dann weiß der natürlich nicht, wie er das machen soll, aber es gibt Türen, die man öffnen kann. Es gibt Punkte im Körper, die man beachten kann, die man loslassen kann, über die Grobentspannung hinaus. Das merkt man dann auch an solchen Leuten, die Schultern sind erst noch hart und nach zwei Monaten werden sie langsam lockerer. Und nach einem halben Jahr sind sie entspannt. Es gibt Übungen zur Entspannung, aber ich glaube, viel wichtiger ist es, dass man die Leute anfasst und dass die merken: „Mensch, ich mach ja zu, ich muss jetzt mal ganz bewusst loslassen.“ Und DADURCH kommt Entspannung zustande. In meinem Tai Chi sind Partnerübungen oder Feeling-Übungen mit den Händen und mit dem ganzen Körper genauso wichtig wie die Form, wenn nicht sogar wichtiger, weil man durch die Berührung merkt: „Oh Mensch, da bin ich ja hart“, was man sonst vielleicht gar nicht merkt, wenn man alleine nur rumsteht. Aber durch die Berührung merkt man: „Oh Mensch, da muss ich loslassen.“
Letztendlich ist das Ziel im Tai Chi, nur noch Haltespannung zu nutzen. Funktionelle Haltespannung. Keine zusätzliche Anspannung! Wie bei Kindern, die noch nicht in der Schule sind. Vorschulkinder sind noch frei von Anspannung, von Blockaden. Wenn sie gesund aufwachsen. Ein großes Ziel ist im Tai Chi, wieder zu werden wie ein fünfjähriges Kind, das noch nicht zur Schule geht. Die sind noch frei von Spannung. Und Anspannungen entstehen ja durch verschiedene Gründe. Das sind Fehlhaltungen durch Arbeit, durch Ängste, Stress. Man spannt die Schultern an, man hat einen angespannten Bauch, man kneift den Arsch zusammen usw. Da muss man wieder das Gegengewicht schaffen. Und das schafft Tai Chi, weil es den Körper bewegt. Im Yoga gibt es auch spezielle Übungen oder im Pilates usw., die arbeiten auch ähnlich.
Aber wieder durch dieses Verständnis: „Mich greift jemand an, ich darf nicht mit Kraft und Anspannung arbeiten, sondern ich muss loslassen.“ Das hilft wirklich auch, in die Tiefe zu entspannen. Und durch die Tiefen-Entspannung lernt man natürlich die inneren Mechaniken und Energieflüsse eher wieder kennen als mit Anspannung im Körper. Natürlich spannt man sich immer wieder an. Anspannung ist per se nicht böse. Wenn ich mit dem Auto irgendwo gegenfahre, werde ich mich anspannen, aber man muss die Chance haben, sich bewusst entspannen zu können. Gerade wenn man unter Druck ist oder unter Stress. Und das schafft Tai Chi und dafür muss man Tai Chi auch vom Kern her trainieren. Da kann man nicht nur eine Seite des Tai Chi trainieren.
Welche Lehrer haben dich noch beeinflusst, neben Manfred Steiner?
Ganz stark natürlich James Cravens. Manfred war der Praktiker. Von Manfred habe ich den Kampfgeist übernommen, die ersten Türen wurden zu dem Inneren Boxen geöffnet und er hat mir die neue Welt gezeigt. Was ja für ihn auch noch damals relativ neu war. Da hatte ich das große Glück, dass ich auch am Anfang mit dabei war, weil er mit uns ja immer die Neuigkeiten trainiert hat. Also Manfred ist mein MEISTER, das wird auch immer so bleiben. Ohne Manfred wäre das alles gar nicht so gekommen. Aber Cravens hat noch mal den Feinschliff gemacht. Der ist mehr Techniker gewesen. Der hat die Techniken akribisch auf ihre Feinheiten hin untersucht und weiterentwickelt. Der hat alles ganz genau gemacht. Was Manfred teilweise durch seine Masse, Kraft und Kampfgeist nur unterschwellig vermitteln konnte, das hat Cravens mir durch seine Klarheit, durch seine Deutlichkeit noch mal offenbart. Ich bin nicht die Kampfmaschine, nie gewesen. Ich war immer mehr der, der chirurgisch vorgehen muss, der nicht einfach nur zuschlägt, der schon gucken muss, wie er was macht.
Und da hat Cravens noch mal einen Teil dazu beigetragen. Aber von wem ich den wirklich inneren Kick gekriegt habe, als ich wirklich für mich gemerkt habe: „So, jetzt bist du internal, jetzt kannst du internal beweisen“, das war durch Dr. Tao. Ich habe internal trainiert, ich habe internal gearbeitet, aber es kam irgendwann der Tag an dem ich gemerkt habe, ich kann beweisen, was ich mache, oder was ich lehre. Und Dr. Tao hat mir nichts direkt beigebracht, bei dem habe ich nur gefühlt, gespürt. Der hat mir gesagt: „Du musst noch konsequenter sein, musst noch weicher werden. Du musst noch mehr loslassen.“ Ab dem Zeitpunkt haben die Sachen auch wirklich bedingungslos funktioniert.
Wo hast du Dr. Tao getroffen?
Bei einem Lehrgang von Nils Klug. Dr. Tao ist ja auch in dem Board of Directors des CBII und natürlich wollte ich den mal kennenlernen, ist ja klar. Dr. Tao hat in Amerika den Nathan Menaged, einen Schüler von William C.C. Chen, und Nils Klug ist ein deutscher Vertreter von William C.C. Chen. Und über diese Schiene William C.C. Chen/Nils Klug/Nathan Menaged hat Nils Klug Dr. Tao nach Deutschland eingeladen. Und das habe ich mir natürlich nicht entgehen lassen und bin da hin. Er hat dieses „Don’t push back, don’t push back-Prinzip“, der war immer nicht da! Wir haben Push-hands gemacht, aber es war eigentlich kein Push-hands, weil er immer weggegangen ist, aber er war trotzdem noch an dir dran. Bamm!!! Das war schon wieder so, als ob ein Nebel plötzlich verschwindet. Das war das, was ich noch gebraucht habe, als letzten Kick, wirklich internal zu arbeiten. Ich habe auch noch von anderen Leuten so ein paar Kicks gekriegt. Ich kann mich an Wilhelm Mertens erinnern, der auch Tai Chi macht, der hat eine spezielle Übung gehabt, wie man die Schultern los kriegt, und die habe ich gemacht und: Wamm!!! Die passte genau zu mir! Und plötzlich konnte ich die Schultern noch besser lösen als vorher! Es gibt auch immer noch so Kleinigkeiten, die man auf dem Weg entdeckt und mitnimmt, aber einen wirklich noch mal richtig großen Kick habe ich von Dr. Tao gekriegt. Obwohl der mir nichts gezeigt hat. Nur durch dieses Erlebnis, ihn zu erleben. Dann kam er irgendwann noch mal und das hat die Sache bestätigt und dann habe ich noch mal darin investiert, wirklich an der Grenze zum Schlaff-sein zu arbeiten. Wirklich überhaupt keine Kraft mehr zu nutzen. Und siehe da, es wurde alles stabiler, es wurde schneller. Ich wurde noch schneller. Ich war schon immer schnell, aber ich wurde noch schneller, ich wurde noch beweglicher. Das war noch mal ein großer Kick für mich. Dann muss ich sagen, dass mir auch zwei Bücher geholfen haben. Einmal das Buch von Wolfe Lowenthal „Es gibt keine Geheimnisse“ und von Hermann Hesse „Siddharta“. Die passen irgendwie zu mir persönlich, haben mir geholfen, Tai Chi oder Inneres Boxen besser zu verstehen. Die haben mal auf eine andere Art und Weise erklärt, was man so auch im Inneren Boxen macht.
Was hast du in dem Buch „Siddharta“ für dich gefunden?
Die Freiheit, persönliche Erfahrungen zu machen und nicht von oben herab gesagt zu bekommen: „So musst du das machen oder so muss das sein“. Dass man alles persönlich erfahren und entdecken muss. Diese Geschichte von Buddha, dass man wirklich die Freiheit haben muss, alles selbst zu entdecken. Ich möchte nicht das machen, was ein anderer mir sagt, sondern ich möchte das machen, was ich für richtig halte. Das ist für mich auch ein Unterschied zwischen internal und external, weil im External machst du genau das, was der Stil dir vorgibt, und im Internal musst du wirklich die Ideen, die inneren Ideen, in dir finden und kultivieren. Das bedeutet also, eigene Erfahrungen zu machen. Und das Buch, das kann ich jedem empfehlen.
Was würdest du denn einem Schüler, der sich dazu entschlossen hat, Internal Martial Arts zu machen, mit auf den Weg geben wollen? Was gibst du ihm als Ratschlag?
Naja, ich sage den Leuten, die mich fragen, wie lange dauert denn so was: „Manchmal lernt man in einer Sekunde mehr als in einem ganzen Leben, das kann man nicht so festlegen.“ Das Wichtigste ist wirklich, dass man versucht, sich zu entspannen – auch außerhalb des Trainings. Alles, was man macht, entspannt zu tun. Entspannung ist das Zauberwort. Natürlich ist es nicht leicht, sich zu entspannen, aber es hilft, wenn man dem Körper immer wieder sagt: „Lass los!“ Wenn man merkt, man kann nicht loslassen, dann muss man mal zur Massage gehen und die tiefen Verspannungen lösen, die vielleicht über die Jahre in einem aufgebaut wurden. Aber letztendlich ist Entspannung der Schlüssel. Ohne Entspannung funktioniert innere Kunst nicht. Das ist es auch, was ich am meisten im Unterricht sage: „Entspannt euch, entspannt euch, entspannt euch!“ Manche schaffen es, sich schnell zu entspannen, manche brauchen ein bisschen, aber letztendlich passiert was. Und wenn man dann schon langsam merkt: „Aha! Ich kann bewusst loslassen, ich kann das Becken öffnen, ich kneife den Arsch nicht mehr zusammen, wenn ich mich bewege“. Dann kann man darauf achten, dass die innere Mechanik, also das Skelett, sich in diesem möglichst entspannten Körper funktionell bewegt, es nicht mehr in der Funktion behindert wird. Eigentlich machen wir jeden Tag innere Bewegungen. Wenn du zum Beispiel eine Tasse aus dem Schrank holst, dann denkst du nicht darüber nach. Du holst die Tasse aus dem Schrank, funktionell besser geht’s nicht: Du hast genau das gemacht, was du wolltest, und es ist funktionell tadellos. Du hast internal gearbeitet. Die Kunst ist es jetzt, dieses Prinzip aus der willentlichen Form zu bringen. Du willst damit etwas Besonderes erreichen oder du willst eine Funktion damit erfüllen, die nicht mehr durch Verspannungen und Blockaden usw. zurückgehalten oder gebrochen wird. Entspannung steht an erster Stelle. Über die Entspannung funktionieren dann die anderen Sachen einfach besser. Zum Beispiel Verwurzeln. Wenn du dich entspannen kannst, dann kannst du sinken und du merkst, wie du mehr Verbindung zur Erde hast. Wenn du dich entspannst, spürst du deinen Körper mehr, wie er dich zentriert. Wie er dich wirklich wieder in eine normale Haltung stellt. Aus Entspannung wird Zentrierung und Verbindung zur Erde, also rooting. Das sind die drei wichtigsten Prinzipien für mich. Ohne die drei Prinzipien funktionieren die anderen nur rudimentär oder gar nicht. Wenn du diese drei Prinzipien gut gelernt oder erfahren hast, dann kannst du auch besser mit Linien und Winkeln umgehen, mit forward pressure und mit projection. Aber das funktioniert nur, wenn diese drei inneren Hauptprinzipien da sind. Entspannung, Zentrierung, Kontakt zur Erde. Und man muss Geduld haben. Manche Sachen passieren relativ schnell und bei manchen Sachen hat man das Gefühl, die schafft man nie! Letztens hatte ich erst wieder einen Schüler, der hat früher immer gesagt: „Non-Telegraph! Das ist nicht mein Ding!“ So, und jetzt hat es ein paar Jahre gedauert, aber jetzt ist er einer, der immer trifft (lacht). Manfred hat mal gesagt: „Der Touch kommt beim Scheißen“ (lacht laut). Und das kann ich nur bestätigen! Plötzlich passiert was und du weißt, das ist internal. Du fühlst plötzlich, da ist was passiert.
Wie ist denn deine Erfahrung mit der Wahrnehmung der Übertragung von Energie, die oft als Chi beschrieben wird?
Ich glaube, das sind vor allem natürliche physikalische Gesetze, die da eine Rolle spielen. Das ist alles erklärbar. Und diese Videos, wo Leute durch die Luft geschmissen oder kontaktlos besiegt werden, das sind alles entweder bewusste Fakes oder es wird überspitzt dargestellt. Ich halte von diesen Non-Contact-Sachen gar nichts. Ich habe schon öfter Leute zu mir eingeladen, die mir das mal zeigen sollten. Die sind alle nicht gekommen. Wenn du dir im Internet so was anguckst, dann sind da alles kooperative Leute, die rumgeschmissen werden. Aber es gibt Phänomene, die man nicht erklären kann. Das glaube ich wohl. Ich hätte beispielsweise, als ich Ju-Jutsu gemacht habe, zunächst nicht gedacht, dass ich mal mit einer ganz kleinen Bewegung jemanden umschmeißen kann oder dass ich selber nicht einfach so geworfen oder weggeschubst oder angegriffen werden kann. Ich hätte damals nie geglaubt, dass man das mit wenig Aufwand irgendwann hinkriegt.
Insofern gibt es schon Phänomene, die aber physikalisch erklärbar sind. Trotzdem bin ich inzwischen überzeugt, dass es Chi gibt. Eine Zeit lang hatte ich daran nicht geglaubt und ich würde das auch jetzt noch nicht überbewerten. Dass man, wenn man kein Chi hat, stirbt oder so, verstehst du (lacht)?
Es ist da, es wird wahrscheinlich irgendwie funktionieren, aber viele Sachen sind meiner Meinung nach reine Physik. Zum Beispiel das, was ja in manchen Non-Contact-Videos dargestellt wird: Ein Schüler geht auf den Meister zu, der macht eine kleine Bewegung und der Schüler wird sofort nach hinten wieder umgeschmissen. Das kenne ich im ganz Kleinen auch von meinem Unterricht. Wenn du manchem Schüler mal weh getan hast oder Angreifer spüren, du drehst denen gleich den Hals um und du kommst dann auf die zu, dann gehen die automatisch ängstlich zurück. Das ist so ein Beispiel für Non-Contact, weil die konditioniert wurden. Gleich tut es weh! Aber die Leute, die mit so etwas Werbung machen, die sollen das mal gegen unkooperative Leute zeigen. Dann überzeugt das. Aber so ist das, glaube ich, nur Fake. Aber die innere Kampfkunst ist sehr high-end-mäßig, was die Kampfkünste generell betrifft. Weil sie durch Entspannung und durch dieses Selbst-Wahrnehmende immer auf ein Minimum reduziert werden kann. An Anwendung, an Funktion. Das hast du bei herkömmlichen Kampfsportarten oft nicht, da setzen sich doch meistens die durch, die entweder mehr Aggressivität haben, mehr Kampfgeist, oder skrupelloser sind. Und in den inneren Künsten hast du tatsächlich eine Chance, dich auch als Friedensapostel durchzusetzen. Weil du durch diese Prinzipien schneller und beweglicher arbeiten kannst. Ich sage immer: „Innere Kampfkunst ist ungefähr so, als ob du mit einer Pistole schießt. Du hast den Abzug schon gezogen und drückst nur noch ab. Oder als ob du mit Pfeil und Bogen schießt, du musst nur noch die Sehne lösen.“ So ist für mich Inneres Boxen. Irgendwann wird es nur noch eine Aktion. Durch das Viele, das man so in sich und für sich herausfindet, durch die verschiedenen Übungen oder Ideen bekommst du Zugang zum Wesentlichen.
Was würdest du sagen, inwieweit hat das Chinesische Boxen dein Leben beeinflusst?
Immens! Für mich ist das zum Lebensinhalt geworden. Nicht nur, dass ich damit auch meinen Lebensunterhalt verdiene, sondern weil es für mich mein Leben ausmacht. Natürlich geht es irgendwie immer weiter, aber wenn mir jetzt zum Beispiel die Beine abfallen würden, dann hätte ich große Probleme. Es ist ja nicht nur so, dass ich davon lebe, sondern dass mein Leben dadurch auch für mich im wahrsten Sinne des Wortes lebenswert ist.
Also man könnte sagen, dass es der Sinn deines Lebens ist?
Ja, das ist der Sinn meines Lebens! Allerdings habe ich vor ungefähr 10 Jahren angefangen, Gitarre zu lernen. Durch die Musik habe ich noch mal so einen großen Kick bekommen. Selber Musik zu machen, auch in einer Band, das ist für mich ein neuer Lebensimpuls. Sagen wir mal so, Hälse umdrehen steht immer noch an erster Stelle (lacht), aber Musik machen kommt jetzt gleich dahinter. So, aber zurück zum Inneren Boxen: Das Innere Boxen ist lebendig! Das ist wirklich im wahrsten Sinne des Wortes lebendig. Ich muss immer aus meiner Erfahrung sprechen. Es ist lebendig und hält einen lebendig! Vor allem: wirklich lebendig! Weil man vielleicht die Dinge entspannter sieht. Man nimmt gewisse Dinge sensibler wahr, aber man nimmt sie dann trotzdem auch nicht so ernst. Ich komme mit vielen Momenten, bei denen manche Leute sich tierisch aufregen, einfach besser klar. Und wenn familiäre Streitereien sind, dann kann man besser schlichten. Das führe ich auch auf die Lehren des Inneren Boxens zurück. Denn der Taoismus ist ja eine sehr liebenswerte Philosophie. Insgesamt sehr freundlich: mit menschenfreundlichen, naturfreundlichen Idee und durch das Innere Boxen lernt man diese Idee besser kennen. Es ist nichts Esoterisches oder eine „Ich-muss-mich-vor-eine-Kerze-setzen-und-Tee-trinken“-Philosophie, sondern es ist eine lebendige, greifbare Philosophie, die man durch sich selbst sogar beweisen kann. Und das hat mir das Innere Boxen auch eröffnet. Aber ich muss auch jeden Tag auf die Toilette, du verstehst was ich meine?! (lacht)
Detlef, ich danke dir für dieses Gespräch!
Bilder: Detlef Zimmermann, Olaf Pachten
Zur Person:
Detlef Zimmermann, Jahrgang 1958, ist Kampfkunstlehrer und Generalbevollmächtigter des Chinese Boxing Institute International für Europa. Er ist Gründungsmitglied der Gemeinschaft professioneller Tai Chi Lehrer und unterrichtet in Hannover. Seit 1976 trainiert Detlev intensiv Kampfkunst, zunächst Ju-Jutsu, bis er durch Manfred Steiner, dessen Schule er später übernahm, zu den Inneren Chinesischen Kampfkünsten gekommen ist.