„Meine heutige Motivation Kampfkunst zu machen ist, dass ich lerne, immer entspannter zu werden. Dass ich runterkomme von diesem Trip: schneller, höher, weiter. Ich lerne mit den Ressourcen, die ich habe, einigermaßen vernünftig zu haushalten.“
Olaf Pachten holte Wolfgang Eikens an einem Samstag Nachmittag Mitte Mai zu Hause ab und sie fahren für das Interview zu einem Ausflugsort in der Nähe, im Hermann-Löns-Park in Hannover-Kleefeld. Das Lokal befindet sich in einem alten Fachwerkhaus am Rande eines Weihers. Sie sitzen draußen, bei Kaffee im Kännchen und gefühlten minus drei Grad Außentemperatur. Wolfgang hatte den ganzen Nachmittag Zeit und da sich beide seit vielen Jahren kennen und lange nicht gesehen haben, gibt es viel zu erzählen.
Wolfgang, ich wollte dich zu Beginn fragen, wie du eigentlich zur Kampfkunst gekommen bist. Hast du als Kind schon angefangen oder als Jugendlicher? Was war für dich das Erlebnis, das dich zur Kampfkunst gebracht hatte?
Ich war eigentlich jemand, der immer sehr defensiv war. Ich war zurückhaltend und hatte im Stadtteil Kleefeld, wo ich groß geworden bin, immer viele Freunde. Einige davon waren die klassischen Schläger, die Straßenkämpfertypen kann man fast sagen. Und der Vorteil war, ich kannte diese Leute sehr gut, weil wir zusammen in eine Schule gegangen sind, wir sind nur unterschiedliche Wege gegangen.Ich bin links abgebogen und sie sind rechts abgebogen (nicht politisch gemeint). Das heißt, sie haben sich oft betrunken und geprügelt, und ich zog mich da völlig zurück, denn das war nicht meine Welt. Wir haben uns aber trotzdem immer wieder mal getroffen, weil ich fand, dass diese Leute eigentlich ganz nette Kerle waren. Das Problem war nur, wenn Alkohol ins Spiel kam, waren sie einfach nicht mehrberechenbar. Ich hatte sie auf eine gewisse Art immer bewundert ob ihrer Kaltschnäuzigkeit. Die hatten vor nichts Angst. Das war natürlich überhaupt nicht meine Welt, ich war eigentlich sehr verunsichert und es brauchte mich nur jemand auf der Straße schief anzusehen, da wurde ich schon gleich ängstlich und bin – zumindest in Gedanken – schon mal weggelaufen. Ich hatte überhaupt ein sehr, sehr schwaches Selbstbewusstsein und Selbstbehauptungsgefühl. Ein damaliger Freund von mir, er hieß auch Wolfgang, der hatte zu der Zeit, ungefähr 1972), angefangen, in der „Sportschule Samurai“ in Hannover Taekwondo zu trainieren. Dort gab es damals einen Lee Bum I, das war ein Großmeister des Taekwondo. Der gab damals, als ich noch zur Volksschule ging, einen Kurs in unserer Schule und nannte den Selbstbehauptung oder Selbstverteidigung. Das war ja damals ein Konzept, das es so noch gar nich in der Deutlichkeit gab. Selbstverteidigungskurse kannte keiner. Es gab zwar schon Judo und Karate, aber keiner hatte irgend etwas von Selbstverteidigungkursen oder Selbsbehauptungskursen gehört.
Dann hatte dieser Lee Bum I bei uns in der Schule das Taekwondo vorgeführt und hatte da seine Kunststücke gezeigt. Wie er über mehrere Leute hinweg sprang und ein Brett in der Luft zertrat, das war natürlich spektakulär. Und der besagte Wolfgang, der bei dieser „Sportschule Samurai“ angefangen hatte, Taekwondo zu trainieren, imponierte mir auch sehr. Das wollte ich dann auch gerne machen, weil ich gemerkt hatte, das wäre was, woraus ich ein bisschen Kraft hätte ziehen können. Nicht um mich auf der Straße zu prügeln, sondern um mehr Sicherheit für mich zu bekommen. Einfach Schutz, dass ich weiß, wenn es mal brenzlig werden würde, könnte ich eventuell was machen. Aber das Problem war damals, dass das kein Sportverein war, sondern eine Sportschule. Da waren natürlich auch die Preise dementsprechend gepfeffert und die monatlichen Beiträge, die hätte ich nicht aufbringen können und meine Eltern auch nicht. Dann hatte dieser Wolfgang angeboten, mir privat ein bisschen was zu zeigen, beizubringen, so ganz unspektakulär.
Ich kann mich jetzt nicht hinstellen und sagen, ich hätte nun Taekwondo gelernt, aber er hatte mir ein paar einfache Sachen gezeigt. Das fand ich sehr beeindruckend und dazu muss ich sagen, er war auch ein sehr begnadeter Typ. Er war unheimlich gelenkig, sehr beweglich, zu ihm passte dieses Taekwondo sehr gut. Das muss auch so 1972 gewesen sein, lange bevor ich meine Lehre anfing.
Wie alt warst du zu der Zeit?
Da war ich 15 oder 16. Und der Weg ging dann ja weiter. Ich kam am 15. März 1973 aus der Schule und hatte dann die Lehre, so hieß es damals noch, begonnen.
Was hast Du für eine Ausbildung gemacht?
Ich begann am 1. April 1973 mit der Lehre zum Schriftsetzer. Aber noch in dem Sinne des alten Handwerks, dem Bleisatz. Also nicht das, was man heute macht, man setzte sich nicht an den PC, schaltet den an und dann fährt alles hoch und ich mache den Umbruch am PC, sondern ich hatte das alles noch mit Bleibuchstaben gelernt, also der klassische Winkelhaken in der linken Hand, hatte einen Setzkasten vor mir, mit den rechten Fingern holte ich die Buchstaben aus besagtem Setzkasten und setzte die Brotschriften. Brotschriften nannte sich das damals deswegen, weil die Schriftsetzer sich damit ihr Geld für das tägliche Brot zum Leben verdienten. Je mehr Zeilen sie in einer Stunde setzen konnten, umso mehr Geld hatten sie verdient. Und diesen Beruf hatte ich gelernt, dieses klassische Handwerk des Schriftsetzers.
Im März 1976 hatte ich dann meine Abschlussprüfung und anschließend den Gesellenbrief in der Hand, da war ich dann Schriftsetzer. Aber in dem Moment, als ich diesen Brief in der Hand hatte, konnte ich eigentlich auch schon davon ausgehen, dass dieser Beruf in absehbarer Zeit tot sein würde. Das war zwar 1976, da gab es noch viele Schriftsetzer, aber wir hatten schon während der Ausbildung übergeordnete Ausbildungslehrgänge gehabt, da es damals losging mit dem sogenannten Lichtsatz. Das waren schon die ersten Vorstufen zur heutigen Computertechnik.
Beim Lichtsatz, brachte man praktisch per Licht Buchstaben auf Papier und nicht mehr über die Bleibuchstaben. Das heißt, da waren schon die Wege vormarkiert, dass es irgendwann mit dem Beruf des Schriftsetzers zu Ende sein würde. Also das ist sicherlich ein schöner Beruf gewesen, aber den Beruf als solches, in der Form, den gibt es heute gar nicht mehr, denn zu meiner Zeit gab es schon während meiner Ausbildung auch die sogenannten Maschinensetzer. Das waren zwar auch noch an Maschinen – nicht Computer – wie eine Schreibmaschine mit Tastatur. Da sind dann die ganzen Buchstaben in fertig gegossenen Bleisatz-Zeilen seitlich herausgekommen, das heißt, der Bleisatz war schon komplett fertig. Der nächste Schritt war dann schon die sogenannte TTS, Teletype-Setter, an die man dann per Lochband Texte eingegeben hatte und die Maschine setzte schon alles automatisch. Also das waren zu der Zeit die Riesenfortschritte. Der Maschinensetzer hatte nur noch eine Kontrollfunktion. Heute gibt es eben keinen Maschinensetzer und keinen klassischen Handsatz mehr; höchstens, im Sinne der von Johannes Gensfleisch, genannt Gutenberg, erfundenen „Schwarzen Kunst“, in einer nostalgischen Setzerei.
Und was hast du dann gemacht, danach?
Danach hatte ich mich da ich ja „nur“ den Hauptschulabschluss hatte und die Berufsausbildung zum Schriftsetzer, noch mal dazu entschlossen, über den sogenannten zweiten Bildungsweg Abschlüsse nachzuholen. Also hatte ich über die Berufsaufbauschule (BAS), Fachrichtung Technik, meine Mittlere Reife nachgeholt. Das war nicht die klassische Mittelschule, sondern das war für Leute, die schon eine Ausbildung hatten und die weiterführende Schulabschlüsse nachholen wollten. Ich hatte dann eigentlich auch zum Ziel gehabt, noch das Abitur zu machen und bin danach, das war so 1978, hier in Hannover auf die IGS-Roderbruch gegangen. Im Kollegstatus, also als Wiedereinsteiger nach einer Berufsausbildung. Das war mit die erste große integrierte Gesamtschule, die es zu der Zeit gab, Gründungsjahr 1974. Ich wollte später auch mal ein Studium beginnen; wenn ich das jetzt so sage, dann glaubt mir das bestimmt kein Mensch, aber ich wollte wirklich damals Theologie, evangelische Theologie, studieren. Aber nicht im Sinne eines klassischen Pfarrers, der von der Kanzel was predigt, sondern mich hatte der Hintergrund interessiert. Die Geschichte und vor allen Dingen dieser Grenzbereich zwischen Religion und unserem irdischen Dasein, weil ich einfach glaube, dass es zwischen Himmel und Erde noch viele Sachen gibt, die wir uns nicht vorstellen können. Ob das nun das Christentum ist oder der Buddhismus, das ist letztendlich völlig egal. Wie man so schön sagt, viele Wege führen nach Rom.
Nach dem bestandenen erweiterten Sek I-Abschluss an der BAS bewarb ich mich, zur Erlangung der Hochschulreife, an der IGS Roderbruch in Hannover. Ich hatte dann aber, während der Zeit an der IGS-Roderbruch, gemerkt, dass mein Weg irgendwie ein anderer werden wird. Also nicht das Abitur zu machen, dann noch ein Theologie-Studium zu beginnen, der Weg hatte sich anders abgezeichnet. Ich merkte, dass sich in der IGS meine Interessenlage verschoben hatte. Als ich in der IGS-Roderbruch anfing, quasi der Tag der „Einschulung ohne Zuckertüte“, da trafen wir uns dann damals in der großen Aula. Das waren nur Leute, die, wie ich, über den Zweiten Bildungsweg zur IGS Roderbruch kamen, die Wiederstarter sozusagen. Und wer saß in diesem großen Aula-Kolloquium? Ein gewisser Detlef Zimmermann! Deswegen die Betonung des wir! (lacht) Da hatte ich also dann Detlef kennengelernt, 1978 war das. Er hatte sich damals auch an der IGS angemeldet, weil auch er sein Abitur noch nachmachen wollte, so wie ich. Und so hatte ich den Kontakt zu Detlef bekommen, während dieser Zeit hatten wir auch einige Unterrichtskurse zusammen besucht, unter anderem hatten wir zusammen Latein. Da hatten wir viel Spaß, mehr gelacht als gelernt, aber das ist eine andere Geschichte! (lacht).
Und dann hatte ich Detlef, weil er mir sehr sympathisch war (und heute noch ist!) und wir uns sehr gut kennenlernten, dann auch von meiner Geschichte mit dem Taekwondo erzählt. Da sagte Detlef, er würde Ju-Jutsu machen, bei der „Sportschule Ullmann“, bei einem gewissen Martin Höft. Wenn ich Lust hätte, dann könnte ich gern mal mitkommen zum Training. Und so hatte mich Detlef, damals im März 1979, in seinem alten VW-Käfer mit zum Training zur „Sportstudio Ullmann“ genommen. Da war aber schon klar, dass Martin Höft nicht mehr in dieser Schule weiter unterrichten würde, weil die Schule geschlossen wurde, da es in der Schule katastrophale bauliche Zustände gab. Im April 1979 wechselte Martin dann zum Großen Kolonnenweg in Hannover, zu einem gewissen Manfred Steiner, der damals dort die frisch gegründete Kampfsportschule, unter dem damaligen Namen „Einzelkämpferschule“ leitete. Im April 1979 hatte ich dort dann mit dem Ju-Jutsu angefangen und den Vertrag unterschrieben. Die Beiträge, die man da zahlen musste, waren für mich auch finanzierbar. Nach der ersten Trainingseinheit konnte ich mich tagelang vor Muskelkater kaum richtig bewegen.
Detlef hatte da schon seinen Orange-Gurt, ich hatte als kleiner Weiß-Gurt angefangen und ich weiß noch, wie ich dieses Erlebnis mit einem gewissen Herrn Steiner hatte, so quadratisch-praktisch-gut, so stand er vor mir (lacht), hatte Oberarme wie ich Oberschenkel und fragte mich, wie es mir so gefällt in der Schule. „Mhm, ah ja!“ hat er immer nur gesagt. „Und du willst jetzt hier Ju-Jutsu machen? Ja gut, o.k.!“ Alles mit leicht angehauchtem Berliner Dialekt (lacht). Wir hatten damals das Ju-Jutsu-Training unter Martin Höft immer nach Manfreds Unterricht. Damals hatte Manfred noch das Kyokushinkai-Karate gemacht und er hatte so eine Mischform zwischen seinem Kyokushin-Kai-Training und seinem Survival-Training aus Zeiten seiner Tätigkeit als Einzelkämpfer-Ausbilder bei der Bundeswehr trainiert. Er hatte vieles vermengt. Auffallend war zumindest erst einmal, dass man in der Schule nicht gesehen werden konnte, weil alles in Tarnfarben gestrichen war. Die Decken, alles war Camouflage, man hatte sich kaum wiedergefunden. Ich dachte, ich stehe hier im Wald, ich bin hier nicht in einer Kampfsportschule (lacht).
Es war jedenfalls alles in Tarnfarben gestrichen, überall waren Photos von Manfred, wie er sich als Einzelkämpfer mit Messer im Mund an einen Soldaten von hinten anschlich und diesen (gestellt!) außer Gefecht setzte. Da hatte er so eine Photoserie an der Wand, das werde ich nie vergessen (lacht). Und dann hing da so eine Tafel an der Wand, da stand drauf: „Macht keine Gefangenen!“ Ähmm ja, das war schon sehr beeindruckend (lacht). Und es roch immer sehr streng nach Knoblauch in der Schule, weil Manfred auch immer Knoblauch aß. Aber das hatte mich nun überhaupt nicht gestört, ganz im Gegenteil. Ich fand jedenfalls diesen Herrn Steiner sehr beeindruckend und hatte dann mal bei seinem Training zugeguckt und sah, wie die Leute völlig fertig aus dem Raum wankten und kotzend auf dem WC verschwanden. Sie konnten nicht mehr, weil er sie so geschliffen hatte, dass sie fast auf allen Vieren aus dem Raum gekrochen kamen (lacht). Und Manfred stand in der Mitte wie ein Fels in der Brandung und hatte die Leute da gescheucht und gequält, aber wie gesagt, obwohl die Leute teilweise kotzend rausgegangen sind, war da trotzdem eine herzliche Atmosphäre. Wie man so schön sagt, rau aber herzlich!
Es war ein harter Umgangston, aber Manfred war auf der anderen Seite auch wieder authentisch. Das war nicht so ein aufgesetztes Bild von irgend jemandem, sondern das war eben Manfred Steiner und das war seine Schule! Und nach diesem Unterricht von Manfred begann dann das Training mit Martin Höft. Martin hatte damals schon den 2. Dan im Ju-Jutsu als ich bei ihm anfing, da war mir schon aufgefallen, dass er ein unheimlich großes Talent hatte. Er war auch nicht der klassische „Ju-Jutsu-Kerl“, so grob und einfach nur seinen Stiefel durchziehend, sondern er war sehr filigran, sehr wendig, sehr geschmeidig. Er hat auch über seinen Tellerrand hinaus geguckt, hatte also auch noch, separat zum Ju-Jutsu, Aikido und auch Karate trainiert. Als Einzelgraduierung hatte er den Braun-Gurt im Aikido und Karate gehabt. Von ihm habe ich sehr viel gelernt und mein Bewegungsverständnis, das ich beim Einstieg in das Chinese Boxing mitbrachte, das hatte und habe ich maßgeblich Martin zu verdanken.
Anfangs, muss ich sagen, war ich ein ziemlicher Grobmotoriker, aber irgendwann hatte ich dann die Kurve gekriegt, hatte selbst den „Schalter umgelegt“. Ich habe zu Hause einfach für mich viel weitergeübt, ich wohnte ja noch bei meinen Eltern zu dieser Zeit und hatte in meinem kleinen Zimmer abends irgendwelche Karate-Abwehrblocks geübt. Das hatte ich dann so verinnerlicht, dass ich dadurch so einen richtigen„Kick“ bekam, so einen Schuss nach vorn. Durch das Training als solches, aber auch durch dieses mentale Verarbeiten dessen, was wir beim Training gemacht hatten, indem ich einfach abends mich noch mal hinstellte und so einen Karate-Unterarmblock nach oben oder nach unten gemacht hatte oder mental alles nochmals durchging. Da überlegte ich mir, wie wir das trainiert hatten usw. Ich machte es für mich und wollte damit nicht auf die Straße gehen und mich behaupten, sondern das nur für mich ganz allein machen. Und das Interessante war, dass ich zu der Zeit ja immer noch Kontakt auch zu meinen Kumpels hatte, den Straßenkämpfern. Die brauchten kein Ju-Jutsu, auch kein Karate, die konnten sich auch so ohne all das behaupten (lacht).
Aber sie hatten dann mitgekriegt, dass auch Wolfgang, die kleine graue Maus, der weder mit ihnen rumgesoffen oder sich geprügelt hatte, dass der irgendwas mit Kampfsport machte, und das hatte mir bei ihnen irgendwie wohl Respekt verschafft. Sie wussten zwar nicht, was ich mache, aber sie wussten, der Wolfgang macht da „irgendwas“. Ich hatte meinen damaligen Freunden nie irgendwas gezeigt, ich hatte mich auch an keinen Schlägereien deswegen mit beteiligt. So war mein Einstieg bekommen bei Martin mit „nicht klassischem Ju-Jutsu“. „Nicht klassisch“ deswegen, weil Martin eines Tages das sogenannte Non-Telegraph mit uns übte. Ich wußte überhaupt nicht, was das war, Non-Telegraph. Da hatte er gezeigt, dass man sich möglichst völlig entspannt hinstellt und schlägt, und der Partner, der uns gegenüber mit hochgehaltener offener Hand stand, sollte versuchen, seine Hand beim Erkennen meines Schlagansatzes rechtzeitig wegzuziehen. Das kannte ich zu der Zeit noch gar nicht und es war auch derzeit nicht Bestandteil des „klassischen Ju-Jutsu“. Da stellte sich dann heraus, dass diesesNon-Telegraph und diese Veränderungen, die Martin im Ju-Jutsu eingefügt hatte, er war viele Jahre Lehrbeauftragter und Landestrainer Niedersachsen für Ju-Jutsu, kamendaher , dass er parallel noch mit einem anderen Kampfkünstler trainiert hatte. Martin hatte damals in Hannover in der Marienstrasse einen Laden, das war der erste für Kampfsportartikel oder Accessoires, wo man Bücher und Fachliteratur kaufen konnte, Trainingsklamotten und solche Sachen, was man heute ja alles übers Internet kriegt, und in diesen Laden kam damals ein gewisser Christopher G. Casey, er interessierte sich für diesen Laden. Casey war ein US-Amerikaner, ich glaube aus New York kommend, zumindest war er beruflich bedingt hier in Deutschland, weil er bei einer großen Rückversicherung gearbeitet hat, und er war in seiner Freizeit durch Hannover gezogen und hatte den Laden „durch Zufall“ betreten. Detlef arbeitete zu der Zeit auch aushilfsweise in Martins Laden und lernte so auch Casey kennen. Casey hatte dann mit Martin Kontakt aufgenommen und Martin, das weiß ich noch genau, fand Casey anfangs ein bisschen merkwürdig, wie er sagte, weil er auch eine merkwürdige Erscheinung gewesen sein muss. Zumindest hatte Casey dann mitbekommen, dass Martin auch Kampfsport machte und Martin, der ja zu der Zeit auch bei Manfred schon in der Schule war, arrangierte ein Treffen zwischen Manfred, Casey und sich.
Das war dann die „Stunde Null“ oder der Beginn des Einzugs des Chinese Boxing in Deutschland. Diese Trainingseindrücke, die Martin da mit Casey gewann, das besagte Non-Telegraph zum Beispiel, das hat das Ju-Jutsu, in Hannover zumindest, sehr stark revolutioniert. Martin war und ist ein hochbegnadeter Ju-Jutsu-Trainer. Ich fuhr mit Martin damals zu vielen Landeslehrgängen und er hatte das Ju-Jutsu dadurch revolutioniert, dass er diese mit Casey trainierten Techniken und Prinzipien mit einfließen ließ, also wie man sich geschmeidiger bewegt, nicht mehr diese klassischen harten Karateprinzipien, sondern weicher und mit entsprechendem Ausweichen. Das Prinzip von Yin und Yang, das Aufnehmen und Abgeben, also Yield and Counter im Sinne als eines der von Casey formulierten 10 Prinzipien, das hatte er damals im Ju-Jutsu eingeführt. Das war ein riesiger Umbruch in Zeiten des „Block-Schock-Ju-Jutsu“
Ich wohnte damals, Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre, mit Detlef und einer Mitbewohnerin im Rahmen einer Wohngemeinschaft in der Kniestraße, Hannover-Nordstadt, Nähe des Sprengelgeländes. Wir haben natürlich keine Molotowcocktails geschmissen, aber wir wohnten auf einem heißen Pflaster damals (lacht). 1982 hatte sich diese Wohngemeinschaft dann aufgelöst, und ich bin dann bei Martin Höft eingezogen. Der wohnte damals auch alleine in der Kestnerstrasse, Hannover-Südstadt, hatte eine Dreizimmerwohnung und sagte: „Mensch, du kannst bei mir mit wohnen“. Dadurch hatte ich sehr viel Kontakt mit Martin, eben weil wir nun zusammen wohnten und auch zusammen Ju-Jutsu trainiert hatten. Ich hatte viele Jahre weiter Ju-Jutsu gemacht und bin so dann auch zu den von Martin gegebenen Landeslehrgängen mitgefahren.Dadurch habe ich eben ein großes Repertoire an Können und Fertigkeiten vermittelt bekommen, welches ich alles Martin zu verdanken habe, ganz klar. Das war so der große, große Einstieg in die Welt des Kampfsports.
So ab 1980/81 kam dann diese Verknüpfung Ju-Jutsu, Großer Kolonnenweg, Manfred Steiner. Der hatte ja zu der Zeit noch sein klassisches Karate gemacht, aber irgendwann legte er diese ganzen Sachen immer mehr ab und hatte sich nach und nach ins Chinese Boxing vertieft. Martin hatte sich dann damals irgendwie abgespalten. Martin sagte mal, dass Casey auch kein einfacher Charakter war. Der soll wohl ein ziemlich schwieriger und brutaler Typ im Training gewesen sein. Wenn du die Lücke nicht gedeckt hattest, dann ist der durchgegangen und du hattest Pech gehabt (lacht). Aber nur so lerntest du die alles entscheidenden 10 Prinzipien.Und Martin sagte mal, dass er mit Caseys Art im Allgemeinen auch nicht so richtig klar kam.
Martin hatte sich dann abgespalten, während Manfred aber dran geblieben ist. Da hatte sich wohl die Chemie Steiner/Casey gefunden. Bei Martin und Casey wohl nicht so sehr, weil Martin eben ein anderer Typ war, ein anderes Naturell hatte. Aber Manfred und Casey, die beiden, die hatten sich wohl irgendwie gesucht und gefunden. Manfred war der große Athlet und Casey war eigentlich genau das Gegenteil, der sah nicht so aus wie Steiner, so quadratisch gut, aber Manfred sagte immer, er konnte es gar nicht fassen, wie Casey ihm die Sachen um die Ohren gehauen hatte. Der verstand das anfangs immer nicht, dass da so ein kleiner Kerl ankommt und ihm da die Dinger um die Ohren haute! Und das hatte Manfred wohl so fasziniert, dass er es absolut wissen wollte, im wahrsten Sinne des Wortes. Was steckte dahinter? So kam es durch diese Wegbereitung, die Martin uns gemacht hatte – er hatte uns ja praktisch durch das Ju-Jutsu den Einstig geebnet, Detlef und mir –, dass wir auch mit dem Chinese Boxing anfingen.
Wir kriegten ja mit, dass Martin öfter auch mal auf Ju-Jutsu-Ebene Lehrgänge organisiert hatte, wo auch Manfred dabei war. Wo Martin den ganz normalen Ju-Jutsu-Leuten mal mittels Manfred zeigen wollte, was Chinese Boxing oder Jeet Kune Do und diese ganzen Geschichten bedeuteten. Das kannte ja zu der Zeit auch keiner. Und dasdemonstrierte Manfred denen dann, das werde ich auch nie vergessen. Diese ganzen Ju-Jutsu-Kerle, diese gestandenen Typen mit ihren Schwarzgurten, wie Manfred denen dann immer die Ohren heiß gehauen hatte, das werde ich auch nie vergessen! (lacht)
Da hatte Manfred bei Lehrgängen auch mal gesagt: „Ich zeig euch mal NonTelegraph! Du, stell dich mal hier hin! So! Hau mal dagegen!“ Und der andere konnte verzweifelt hauen wie er wollte, der traf nicht Manfreds hochgehaltene Hand. Dann hatte Manfred das bei ihm mal gemacht. Da bekam der Betreffende immer „heiße Ohren/Hände“ (lacht). Das war schon sehr beeindruckend! (lacht) Naja, und das hatte mich natürlich auch sehr beeindruckt. Das Beeindruckende bei Manfred war, dass dieser große Kerl, wie gesagt quadratisch-praktisch-gut, der aussah wie gestählt, der Muskeln an seinen Oberarmen hatte wie ich am Oberschenkel, dass der trotzdem ganz weich war dabei. Detlef und ich hatten damals, das werde ich nie vergessen, bei einem Ju-Jutsu-Lehrgang mitgemacht, bei dem Manfred auch Unterrichtender war. Da sagte Manfred, etwas abseits vom Geschehen, zu Detlef und mir: „Hier kommt mal her, ich zeig euch mal was!“ Dann sollten wir Manfred wegdrücken, wegschieben. Da dachte ich: „Das gibt es doch gar nicht, der steht ja da wie so eine Eins.“ Ich konnte ihn nicht umdrücken, ich hatte das Gefühl, ich drücke in so eine weiche Masse rein. Nichts Stählernes, nichts Hartes, sondern so ganz weich. Der stand da einfach! Das konnte ich nicht verstehen. Das hat mich mächtig fasziniert und Detlef genauso. Als Manfred das bei uns machte: Klar, wir sind umgefallen wie die Bretter, aber Manfred stand da, ohne dass man das Gefühl gehabt hätte, man renne gegen eine Betonwand. Er war weich und gleichzeitig unheimlich energievoll. Das war faszinierend, das hatte ich so zuvor nie gesehen, bei keinem.
1982 hatte ich dann meine Prüfung zum Schwarzgurt gemacht, also den 1. Dan im Ju-Jutsu. Kurz danach hatte ich aber mit dem Ju-Jutsu immer mehr aufgehört und bin ganz zu Manfred zum Chinese Boxing gegangen. Aber ohne die Wurzeln zu vergessen! Ich habe nie gesagt, das, was ich im Ju-Jutsu gelernt hatte war alles Scheiße: „Das tue ich jetzt mal weg.“ Ganz im Gegenteil, das war das ideale Startbrett, um anknüpfen zu können. Deswegen kann ich nicht sagen, Manfred ist die Stunde Null, da habe ich angefangen, sondern da war noch ein riesiger Schritt davor und der hieß: Martin Höft! Er hat sehr viel dazu beigetragen.a Das, was ich zu dem Zeitpunkt konnte, war sein Verdienst war. Mit Sicherheit! Martin und Manfred, die beiden gehören bis heute für mich eng zusammen.
Wann hast Du angefangen selbst zu unterrichten?
Ich stieg, wie gesagt, ca. 1982 bei Manfred ein. Während dieser Zeit, also von 1982 bis 1985, da begann das schon, dass ich auch öfter mal Unterricht bei Manfred gab, wenn er nicht unterrichten konnte oder es manchmal Tage gab, da Manfred einfach keine Lust gehabt hat zu unterrichten. Dann hatten Jose, das war auch einer von seinen langjährigen Schülern damals, oder manchmal auch ich, unterrichtet. Manfred sagte dann: „Heute gibst du mal das Training!“ Und so hatten wir dann, auch unfreiwillig, schon die ersten Trainingserfahrungen als Unterrichtende gemacht. Das war so Mitte der 80er. Nach zwei bis drei Jahren ging das los, dass Manfred uns öfter mal beauftragte, dass wir das Training geben sollten, zumindest die Anfängerstufen, die er damals hatte. Ich habe vorher, September 1980 bis Dezember 198, Zivildienst im Annastift in Hannover gemacht, im Bereich der damals sogenannten Werner-Dicke-Schule , einer Sonderschule für Körperbehinderte. Das war damals für mich ein Startbrett, sodass ich mir gesagt habe, ich ziehe zu Hause aus, weil es im Annastift Möglichkeiten für Zivildienstleistende oder für Pfleger gab, dort zu wohnen. Ich mietete mir ein Zimmer während meiner Zivildienstzeit. Als dieser beendet war, musste ich wieder dort ausziehen, und in der Zwischenzeit hatte ich ja Detlef kennengelernt. Ich zog, wie schon erwähnt, anschließend zu Detlef in die Wohngemeinschaft in der Kniestraße.
In der Zeit hatte ich dann auch schon angefangen, Kurse zu geben. Und zwar nicht nur die Vertretung für Manfred, sondern damals im Freizeitheim Lister Turm, bei den sogenannten Falken, da wurde jemand gesucht, der Selbstverteidigungskurse für Frauen gibt. Also wirklich nur für Frauen speziell, Frauen-Selbstverteidigung. Detlef wurde angesprochen, konnte den Kurs aber aus zeitlichen Gründen nicht geben, und da fragte er mich, ob ich das nicht übernehmen wolle. So begann ich mit meinem ersten eigenen Kurs für Frauen-Selbstverteidigung, 1983/84 muss das gewesen sein. Da machte ich immer 1,5 Stunden, einmal pro Woche.Als Manfred dann seine Schule 1990 an Detlef abgab , habe ich bei Detlef manchmal auch die Kurse gegeben; freitags gab ich lange Zeit einen eigenen Kurs bei ihm; eine Kombination aus Kampfkunst (Hsing-I Chuan ) und Pratzentraining mit Konditionstraining; die Treppe rauf und runter rennen bis man fast kotzte. Auch ich quälte mich dort gemeinsam mit den anderen Teilnehmern, im angenehmen Sinne aber.
Alte„Steinersche Schule“ (lacht). Dann nahm ein Verein Kontakt zu Detlef auf mit dem Angebot, dort einen Tai-Chi-Kurs geben zu können. Das war beim VfL Grasdorf in Laatzen bei Hannover, den Detlef damals aber nicht geben konnte. Da fragte er mich, ob ich nicht Lust hätte, das zu übernehmen. Das ist eine regelmäßige Institution geworden. Der Spartenleiter beim VfL Grasdorf, Günther Meyer, trennte sich vom VfL und gründete seinen eigenen Verein, „GiG“; er bietet dort reinen Gesundheitssport und andere Veranstaltungen zum Thema Gesundheit an. Ich „wanderte“ dann später mit zum „GiG“, das steht für „Gewinnen in Gesundheit“. Seit etwa 14 Jahren mache ich das, jetzt freitags, damals noch mittwochs.Das ist mittlerweile ein Kurs mit einer festen Gruppe von 10 Leuten, wobei natürlich nicht alle regelmäßig immer erscheinen. Diese feste Gruppe zu unterrichten, das macht mir sehr viel Spaß. Es ist aber auch schon manchmal sehr anstrengend nach der Arbeit, denn ich arbeite seit 2002 im orthopädischen Fachkrankenhaus Annastift als Krankengymnast/Physiotherapeut. Wenn ich dann morgens um kurz nach sechs Uhr aufgestanden bin, kurz danach zur Arbeit mit dem Rad fuhr, viele Patienten behandelt und natürlich auch viel mit den Patienten gesprochen hatte, dann bin ich oft schon sehr kaputt und müde. Im Tai Chi -Kurs dann erneut brabbeln, vormachen und den Motivationskasper spielen (lacht), das fällt mir dann manchmal ganz schön schwer.
Aber wenn ich dann dabei bin, merke ich, dass ich das nicht nur abspule und einfach mache, sondern ich mache ja selbst auch bei vielen Sachen mit, und dann macht es auch richtig Spaß. Ich merke oft, dass ich in jeder Sekunde, die ich unterrichte, auch selber viel lerne. Ich lerne durch mich selbst und ich lerne durch die Teilnehmer, denn wenn sie bei mir was machen und ich merke, irgendwas funktioniert nicht, dann muss ich mir ja auch Gedanken machen, warum funktioniert das denn jetzt nicht. Es ist ja nicht grundsätzlich immer das Unvermögen der Teilnehmer. Also bereichern wir uns gegenseitig. Ich lerne von den Leuten und sie lernen von mir, gemeinsam schreiten wir den Weg voran. Wobei ich immer der Meinung bin, dass es auch nicht wichtig ist, dass ich noch mehr mache und da noch einen Kurs gebe und da noch einen Kurs, denn „weniger ist mehr“. Ich finde, das Chinese Boxing hat ein riesiges Spektrum, wobei man sicher nicht ALLES gleichermaßen beherrschen kann in puncto Stile. Was Casey uns aber mit seinen 10 Prinzipien vermacht oder vererbt hatte, das ist für mich eigentlich das Genialste, was es gibt. Weil die Prinzipien viele Sachen miteinander verbinden und wie Manfred Steiner sagte: „Man kann in die Richtung gehen oder man kann in die Richtung gehen, aber man ist ein Mensch, man ist physisch, man steht mit beiden Beinen auf dem Boden und es gibt physikalische Gesetze, die gelten bei jedem. Und nur vom „In-die-Kerze gucken“ passiert nichts“, so sein provokanter und wahrer Spruch. Und das verkörpern meiner Meinung nach diese Prinzipien. Sie sind UNIVERSELL gültig, funktionieren bei allen Stilen, egal ob beim Westlichen Boxen, Karate, Judo ….nicht WAS ich mache, sondern WIE ich es mache! Die Physik und wie sie auf uns einwirkt, also mit anderen Worten, wie kann ich loslassen, wie kann ich stehen bleiben, wie kann ich meine Mechanik so organisieren oder ausrichten, dass ich eine gute Position und einen guten Stand habe. Und das ist eigentlich das Geniale, daran kann man sein Leben lang feilen, das hört NIE auf. Du kannst jedes Prinzip für sich nehmen und sagen, heute übe ich mal das Prinzip Wandlungsfähigkeit, also den 6/9 Change. Da steckt schon so viel dahinter, diese Wandlungsfähigkeit zu üben, dass ich nicht über den Schwerpunkt hinaus gehe und wegfalle, sondern dass ich im Gleichgewicht bleibe, also praktisch die perfekte Symbolisierung des Yin-Yang-Symbols, dass ich also niemals aus diesemYin-Yang-Symbol ausschere, sondern immer in der Mitte, der Wandlung, bleibe. Das ist phantastisch, finde ich.
Manfred hat das Prinzip des Kämpfens mal ganz einfach formuliert. Er sagte: „Seitdem irgendwelche Schlauen mal auf die Idee gekommen sind, von den Bäumen herunterzuklettern und die Steppen unsicher zu machen, hat man gelernt sich mit Fäusten und Händen zu wehren“, (lacht). Und da hat jeder irgendeinen Weg gefunden. Der eine nimmt den Weg, der andere nimmt den Weg, aber letztendlich haben wir zwei Fäuste und zwei Füße und damit können wir irgendetwas machen. Bruce Lee hatte das ähnlich formuliert. Er soll gesagt haben: „Kampfkunst ist eigentlich was ganz Einfaches: Trete, wenn du treten musst, schlage, wenn du schlagen musst!“ Das ist es eigentlich, mehr ist es nicht! That’s it (lacht). Und wenn man sich mal genau überlegt, denkt man, so simpel kann es ja nicht sein? Doch, das ist es, glaube ich, ganz einfach. Aber man macht es unheimlich kompliziert und verheddert sich, weil man meint, man müsse da tausend Techniken haben, von hinten durchs Auge und noch komplizierter. Dabei ist es eigentlich eine ganz einfache Sache. Man muss nur Sinken und Loslassen und die 10 Prinzipien beherrschen. Dann ist es klar.
Sinken und Loslassen sind nicht meine Worte, sondern der letzte Großmeister des Yang-Tai-Chi, Cheng Man-ch’ing soll dies in den letzten Jahren seiner Unterrichtstätigkeit fast nur noch, als Hinweis zu seinen Schülern beim Üben des Tai-Chi-Chuan , gesagt haben. Und deswegen, finde ich, hört das auch nie auf. Man kann nie sagen, jetzt kann ich es. Das ist eigentlich das Phantastische, man kann nie sagen, man ist am Ende, das kann ich. Das sage ich den Leuten bei meinem Tai-Chi -Kurs auch immer, wenn ihr die Tai-Chi-Form z. B. könnt, dann ist es nicht damit getan, dass ihr jetzt eine Form „könnt“ und das ist dann Tai-Chi-Chuan. Das ist Quatsch! Es gibt sowieso nicht das Tai-Chi -Chuan. Es gibt die Prinzipien, nur die. Alles andere ist völlig Wumpe, was du darum herum machst. Deswegen ist auch das Erlernen einer Form gar nicht das Entscheidende, das ist für mich eine nette Nebensache, sondern dass ich die Prinzipien verinnerliche und die vor allen Dingen auch in den Alltag mitnehmen kann. Ich merke das zum Beispiel auch zu Hause, wenn unsere drei Kinder mal wieder ein bisschen Theater oder Lärm machen; jetzt bin ich mittlerweile fast auf so einem Level, dass ich merke, wenn meine Schultern hoch gehen. Dann denke ich, Mensch, warum ziehe ich jetzt meine Schultern hoch? Die können auch unten bleiben! Das ist die Umsetzung des Tai-Chi-Chuan in den Alltag. Das ich also nicht mehr mit hochgezogenen Schultern rumrenne und mich irgendwann wundere, warum ich ein Schulter-Nacken-Syndrom habe, sondern dass ich einfach nur lerne, meine Schultern unten zu lassen, dass ich entspannt bleibe, dass ich sinke, dass ich nicht bewusstlos bei vollem Bewusstsein in den Tag hineinstolpere. Das ist eigentlich der Kern, den man mitnimmt. Wenn man ursprünglich gedacht hatte, ich mache mal Kampfkunst, um mich auf der Straße selbst zu verteidigen, so ist das meiner Meinung nach schon lange vorbei, denn auf der Straße musst du heute, meist, eine Waffe haben, was auch immer für eine Waffe. Mit empty-hands sich noch zu verteidigen, ist heutzutage sicherlich noch möglich. Aber ich glaube, wenn ich mich nur mit dem Gedanken beschäftige, wie ich mich auf der Straße behaupten kann, brauche ich mich eigentlich nur hinzustellen und zu sagen: „Ich lerne jetzt bretthart zuzutreten und damit komme ich dann auch weiter oder ich lerne schnell wegzulaufen“. Das ist aber nicht der Kern der Kampfkunst. Deswegen heißt es ja auch Kunst! Kunst ist es, wie kann ich das in mein Leben integrieren und für mich das Beste daraus ziehen, dass ich nicht der gefürchtete Straßenkämpfer bin, sondern dass ich gesund und entspannt durchs Leben gehe. Das ist, glaube ich, das Entscheidende dabei. Weniger der Gedanke, mich selbst nur auf der Straße behaupten zu können. Viele sagen ja auch immer, was kannst du denn, zeig mir doch mal einen Trick! Wie gesagt, ich hole eine 44er aus der Tasche und das ist meine Kampfkunst! Das kannst du auch sagen (lacht). Deswegen finde ich es auch immer so vermessen, was da im Netz angeboten wird, es gibt ja teilweise im Internet diese Videos, wo Leute zeigen, wie sie eine Messerabwehr machen mit Entwaffnung und solche Sachen. Das ist teilweise so hanebüchener Scheiss, den man da sieht. Das ist wahrlich Kamikaze! Darauf kommt es auch gar nicht an, das ist es nicht einzig und allein. Dieser Kampfkunst-Gedanke geht weiter. Das Eine ist, dass ich lerne, überleben zu können, auf der Straße oder sonst wo. Das ist ein Aspekt. Aber das Leben kann auf der Straße für den Anderen (oder für mich?) auch schnell vorbei sein. Viel wichtiger ist, was kann ich da für mich lernen, um ganz entspannt durchs Leben zu gehen. Ich glaube, das ist die Verquickung.
Ein anderer Aspekt: Als ich mit dem Ju-Jutsu so richtig in Fahrt kam, begann ich nach drei Jahren mit der Übungsleiter-Ausbildung bei Martin. Und diese Übungsleiter-Ausbildung sah nicht nur so aus, dass wir da didaktische Lernketten vermittelt bekamen, also wie vermittele ich vom Bekannten zum Unbekannten Techniken, Würfe, Schläge, Tritte, sondern es bestand ja auch daraus, dass wir zum Beispiel lernen sollten, die Anatomie des Menschen zu verstehen. Und dort war auch ein Bestandteil der Übungsleiter-Ausbildung die Sportmedizin. Da war damals ein Ju-Jutsuka als Referent, der hieß Birger Kuhlmann. Birger Kuhlmann war (ist) ein guter Freund von Martin Höft, die beiden hatten zusammen Ju-Jutsu gemacht. Martin hatte Bauingenieur-Wesen studiert und Birger Medizin. Das war natürlich eine ideale Kombination, Ju-Jutsu und Medizin. Dann hat er uns die Medizin, also sportmedizinische Kenntnisse, vermittelt in dieser Übungsleiter-Ausbildung. Dadurch kriegte ich auch diesen Bogen zur Medizin und kam sodann dazu, dass ich nochmals umschwenkte und die Ausbildung zum Physiotherapeuten begann. Denn ich hatte ja von 1973 bis 1976 Schriftsetzer gelernt und von 1982 bis 1985 auch eine Erzieher-Ausbildung absolviert. Nach dem Abgang aus der IGS Roderbruch ging ich ins Annastift und begann am 1. September 1980 mit der Ableistung meines Zivildienstes. Durch meine Zivildiensttätigkeit hatte ich auch viel Kontakt zur Krankengymnastik bekommen. Durch meine Arbeit als Zivildienstleistender hatte ich ganz viel Kontakte zu Kindern, zu pädagogischen Konzepten und hatte so auch einen Einblick ins Internatsleben. Dort gab es Schulinternate, und dieser Bereich hatte mich so interessiert und fasziniert, dass ich auch gerne in diesem Bereich arbeiten wollte. Das konnte ich natürlich nicht als Schriftsetzer oder als Zivildienstleistender, sondern da musste ich auch eine entsprechende Qualifikation für haben. Da begann dann meine Erzieherausbildung im Stephansstift, gegenüber vom Annastift; nach der Ausbildung begann ich 1985 im Annastift als Erzieher im Bereich der Schulinternate zu arbeiten. So entstand praktisch der Übergang vom Zivildienstleistenden im Annastift zum Erzieher im Annastift. In den Internaten hatten wir die Kinder und Jugendlichen, die tagsüber in der Werner-Dicke-Schule unterrichtet wurden und danach bei uns im Internat untergebracht waren. Wir waren ja praktisch so wie eine Familie für die Kinder. Direkt vor Ort, auf den Internaten, arbeiteten Beschäftigungstherapeuten, Ergotherapeuten und Physiotherapeuten. Die hatten eigene Räume in den Internaten, wo wir dann die Kinder zu ihren einzelnen therapeutischen Behandlungsmaßnahmen hinbrachten. Ich sah dabei öfter mal zu, und das hatte mich so fasziniert, wie die Krankengymnasten arbeiteten, dass ich über diesen Bogen – Ju-Juts , Übungsleiter, Sportmedizin, Arbeit im Annastift, Kontakt zur Krankengymnastik – noch mal den Beruf des Physiotherapeuten auswählte, den ich mir damals selbst finanzierte. Da ich das nicht bezahlt bekam, machte ich oft Spätdienste in den Internaten und teilweise auch Nachtwachen, ein hartes Brot. So habe ich mir meine Ausbildung finanziert. Ich hatte vorher auch Geld gespart, aber das reichte nicht aus, denn ich musste Schulgeld bezahlen und dazu natürlich meinen Lebensunterhalt finanzieren. Das war ein ganz schön harter Pappenstiel muss ich sagen, diese Ausbildung habe ich mir wahrlich teuer erkauft. Auch durch Schulden, die ich danach dann abbezahlte mit vielen Entbehrungen.
Das hat sich aber für mich gelohnt, denn ich stellte fest, dass dieser Beruf des Physiotherapeuten für mich der Start war zu mehr und mehr Verquickung zwischen Tai-Ch-Chuan , Kampfkunst, Physiotherapie und Medizin. Du beschäftigst dich ja mit dem Körper, indem du dich mit der Kampfkunst beschäftigst und wenn du nicht nur so ein hohler, stumpfer Sandsackklopper bist, der irgendwo dagegen haut, sondern über deinen Tellerrand hinausschaust, dann kommst du auch irgendwann zu diesen ganzen medizinischen Dingen, denn du willst verstehen, wie funktioniert dein Körper, wie macht der das, oder warum tut’s dir heute hier weh und da weh. Da schließt sich eigentlich der Kreis. Das ist das, was viele Leute sich auch gar nicht so bewusst machen. Das beste Beispiel ist ja auch Manfred, diese riesige Entwicklungs-Kette, die er gemacht hat. Wenn man sich überlegt, dass er mal Einzelkämpfer-Ausbilder war, von Beruf Kartograph, Kampfsportler, dann hat er Casey kennengelernt. Anschließend seine ganzen Kampfkunst-Seminare, die er auch in den USA gab, dadurch lernte Manfred dann Chiropraktiker kennen, hatte wohl auch viel in den USA von diesen Chiropraktikern gelernt. So entstand der Bogen dazu, dass er eine Heilpraktiker-Ausbildung absolvierte und nun eine eigene Praxis für komplementäre Regulationsmedizin hat. Ein riesiger Bogen, vom Kartographen zum Einzelkämpfer-Ausbilder, Kampfkünstler, TCM-Therapeut und Chiropraktiker. Und dazwischen jede Menge Kampfsport. Das gehört einfach alles zusammen.
Erzähl doch noch ein bisschen von Martin Höft.
Martin Höft und Birger Kuhlmann hatten damals beide in der „Sportschule Uhlmann“ Ju-Jutsu gemacht, wie ich anfangs schon sagte. Martin hatte noch so einige Photos bei sich zu Hause in seinem Schrank stehen, wo er mit Birger Kuhlmann drauf ist und Birger einen gesprungenen Seitwärtsfußtritt macht, wobei Martin sich in einer Abwehrposition befindet. Das gestellte klassische Photo, das viele bestimmt so machten. Die beiden hatten so eine Symbiose, haben ganz viel zusammen trainiert. Ich kann sagen, Martin und Birger waren hier in Niedersachsen die herausragenden Persönlichkeiten im Ju-Jutsu. Martin wohl noch ein bisschen mehr, dadurch, dass er auch Übungsleiterausbilder und Landestrainer für Ju-Jutsu war. Birger war auch dadurch bekannt, dass er viele Schüler trainierte und diese bei den ganzen Prüfungen, die wir gemeinsam gemacht hatten – die Schülergrad-Prüfungen und auch die Dan-Prüfungen –, dass da immer die Schüler von Martin Höft und Birger Kuhlmann mit die Besten waren, die sind nie durchgefallen. Birger hatte noch eine etwas andere Art des Ju-Jutsu gemacht, die war noch sehr stark am Karate ausgerichtet, was nun aber nicht bedeuten soll, dass seine Auslegung des Ju-Jutsu jetzt schlechter war, ganz im Gegenteil. Die Leute waren alle super. Birger kennt natürlich auch Manfred. Birger ist mittlerweile Internist und arbeitet in Hannover, Georgstrasse, in einer Gemeinschaftspraxis mit dem Schwerpunkt HIV- und Aids-Patienten. Ich weiß gar nicht, ob er heute noch Ju-Jutsu macht. Birger und Manfred kooperieren heute gewissermaßen. Hat Birger den Eindruck bzw. die Bestätigung, dass ein Patient von ihm ein Fall für Manfred sein könnte und umgekehrt Manfred dies bei seinen Patienten auch, dass einer von Manfreds Patienten ein Fall für einen Facharzt der westlichen Medizin sei, dann empfehlen sie sich gegenseitig.
Anmerken möchte ich hier ganz besonders, dass Manfred im Rahmen seiner Tätigkeit in seiner Praxis sehr wohl seine Grenzen kennt und nicht den „Das-Kriegen-Wir-Schon-Hin“-Allrounder spielt. Erfahren konnte ich das hautnah, da ich auch oft Patient bei Manfred war, und er vermutete bei mir damals, dass ich eine Erkrankung haben könnte, bei der seine Kompetenzen am Ende seien. Recht hatte er, ich hatte (habe) als Diagnose eine rheumatische Erkrankung, chronische Polyarthritis, damals von einem Rheumatologen gestellt bekommen, und Manfred empfahl mir dringenst, dass ich nun dieses vom Rheumatologen verordnete Medikament nehmen müsse. Äußerst kompetent und verantwortungsbewusst von Manfred. Die Grenzen kennen.
Durch die Lehrgänge, die Manfred damals im Ju-Jutsu gab, war auch Birger oft dabei und lernte da natürlich Manfred kennen. Birger war ja damals auch schon ganz begeistert von Manfred. Er sagte damals zu mir, dass Manfred einer der besten Kampfsportler sei, die er je gesehen hatte, und es gibt ganz viele Bilder von mir und von Birger, Manfred, und Martin, alle in Klaus Kothes damaligem „Little China Town“ in Garbsen.
Klaus Kothe war ein langjähriger Privatschüler von Manfred, der eine eigene, sehr stilvolle und gut eingerichtete Schule, das besagte „Little China Town“, in Garbsen selbständig aus einer alten Lagerhalle umfunktionierte und lange Jahre dort auch Fußballer nach Sportverletzungen rehabilitierte (Klaus war früher ein sehr guter Halbprofi-Fußballer, zusätzlich zur Kampfkunst). Im „Little China Town“ gab es stilübergreifende Lehrgänge, wo Martin den ersten Teil des Lehrgangs gab und dann Manfred. Birger war hier natürlich aktiv dabei. Bei Birger hatte ich selbst nie Unterricht, aber bei den Prüfungen, Landeslehrgängen oder den Lehrgängen überhaupt, die ja übergreifend waren für alle, da habe ich viele Schüler von Birger kennengelernt, und das waren alles, wie ich vorhin schon sagte, durchweg sehr gute Ju-Jutsuka. Detlef kenntauch noch einige von Birgers Schülern. Und wenn man diesen Kreis so zurückverfolgt, dann lief das schon ziemlich zielstrebig auf diesen jetzigen Moment in Sachen Kampfkunst hinaus. Und wie Manfred damals oft sagte: „Ich könnte nicht sagen, ich habe dieses eine Ziel, ich habe nur gemerkt, es hört nie auf“. Du drehst den Wasserhahn an und es läuft und läuft, es hört nicht auf. Es sei denn, ich drehe den Wasserhahn in mir selbst irgendwann ab, weil ich kein Interesse mehr habe und das nicht mehr verfolgen will. Aber wenn ich den Wasserhahn aufgedreht lasse, dann kann das Wasser dahin laufen, es kann dahin laufen, aber es hört einfach nie auf zu laufen…es ist ALLES so unendlich wie das Weltall.
Was ist heute für dich eine Motivation Kampfkunst zu machen?
Dass ich lerne immer entspannter zu werden, dass ich runterkomme von diesem Trip: schneller, höher, weiter. Dass ich lerne mit den Ressourcen, die ich habe, einigermaßen vernünftig zu haushalten und dass ich vor allem auch merke, dass ich mich selbst zusammenhalten kann. Ich lerne ja, wie ich vorhin schon sagte, durch das Vermitteln der Kampfkunst auch selber. Und in dem ich mir selbst immer wieder sage und es praktiziere: „Sinken und Loslassen“, werde ich auch immer entspannter. Ich kann heute gar nicht mehr beschreiben wie es ist, wenn ich mich hinstelle und in das Wuji, die sogenannte Grundposition, gehe. Was ich dabei empfinde, das kann ich schon gar nicht mehr beschreiben. Und das ist für mich Grund genug, da jeden Tag weiterzumachen. Dass ich mich hinstelle und loslasse. Das Gefühl des Loslassens, des Sinkens, jeden Tag von neuem. Das ist für mich mittlerweile die Motivation, das immer weiter zu machen. Ich lerne auch, dass dieses Feld immer feinstofflicher wird. Der Makrokosmos, den ich von außen sehe, dann, wenn ich die Form mache, geht in den Mikrokosmos über, ins immer kleinere Detail. Es geht in jede einzelne Zelle und noch weiter. Es kann immer mehr aufgespalten werden, das hört nie auf!. Das ist für mich ein Grund da weiter zu machen, weil ich glaube, dass es noch eine ganze Menge zu lernen gibt. Gar nicht mehr so sehr Technik A, Technik B und Technik C, sondern wie kann ich mich noch besser strukturieren, meinen Körper noch besser ausrichten, wie kann ich noch besser stehen, letztlich, wie kann ich die 10 Prinzipien von Casey noch besser umsetzen und vor allem, was kann ich noch entdecken, kann ich „neue Türen“ öffnen, andere Prinzipien noch entdecken? Dieser Grundgedanke von früher, dieses Kämpfen, die absolute Priorität, dass man alles und jeden bekämpfen können muss, ich glaube davon muss ich mich, muss ein jeder Kampfkünstler sich verabschieden. Die Leute, die ich damals kennenlernte und mit denen ich groß geworden bin, diese von mir beschriebenen Straßenkämpfer, da hatte nie einer Karate oder Judo oder sonst was gemacht, das brauchten sie auch gar nicht. Wenn einer von diesen Streetfightern durch die Wand wollte, dann ist er auch durch diese Wand gegangen. Er hatte sich zwar selbst den Kopf eingehauen, aber das war ihnen echt scheißegal, einfach durch und gut, mehr oder weniger. Da brauchte keiner von ihnen Karate oder ähnliches trainieren. Ich glaube, das lag viel in deren Naturell.
Ich glaube Manfred Steiner, so wie er ist, der wäre auch ohne Chinese Boxing ein Tier gewesen (lacht). Egal was er auch gemacht hätte, Judo, Karate oder was auch immer. Daran wird, glaube ich, deutlich, dass es gar nicht so entscheidend ist, WAS man macht, sondern WIE man es macht, wie man es für sich umsetzt. Und ich mache es so für mich, dass ich versuche, immer mehr zu entspannen, immer mehr loszulassen, immer mehr zu sinken und vor allem immer mehr in eine Gelassenheit hineinzukommen, die mich aber niemals phlegmatisch werden lässt. Das ich also gegenüber meinen Mitmenschen, meiner Umwelt oder dem was in der Welt passiert, nicht gleichgültig werde. Das ist nicht das Ziel. Aber ich lerne zu sehen, was ich daran ändern kann, und wenn ich es nicht ändern kann, wie kann ich das kompensieren, wie kann ich damit umgehen, und wie kann ich dabei trotzdem noch gelassen und entspannt bleiben? Dieses Arrangieren ist, glaube ich, das, was das Entscheidende ist. Ich glaube, da können einem vor allem die inneren Kampfkünste, egal was man jetzt macht, Bagua Chang, Hsing-I Chuan oder Tai Chi Chuan, die können dazu sehr stark beitragen.
Es ist wirklich eine Reise ins Ich, zu sich selbst. Du gehst in dich hinein und guckst, fühlst; das hört eigentlich nie auf. Deswegen gibt es da für mich auch kein Ende, dass ich sage, so jetzt habe ich die 10 Prinzipien verstanden. Ich vergleiche die Kampfkunst immer ganz gern – es heißt ja nicht umsonst Kampfkunst-, mit einem Künstler einer anderen Kunst, mit einem Musiker. Nur als Beispiel mit einem Gitarristen, einem speziell klassisch versiertem Gitarristen, der im Orchester spielt, der wird sicher auch nie sagen: „So, jetzt kann ich klassische Gitarre spielen, kann alle für klassische Gitarre komponierten Stücke, nun bin ich perfekt, kann jetzt alles.“ Der entdeckt immer noch einen Ton an der Gitarre, den er noch besser spielen könnte, wo er noch eine andere Griffvariante herausfindet, denkt vielleicht, so kann ich noch besser spielen, so ist es viel leichter, so verkrampfen meine Fingermuskeln nicht so stark. Oder der Maler, der macht einen Pinselstrich und entdeckt plötzlich: „Mensch, wenn ich das so streiche, dann ist das doch viel leichter, das sieht viel schöner aus, das harmoniert viel besser!“ So ist das für mich auch in der Kampfkunst. Du kannst malen, du kannst musizieren, du kannst Kampfkunst ausüben, es gibt immer irgendwas noch zu verbessern. Oder auch der Fußballer, der wird nie auslernen, der wird immer noch lernen, ich kann den Ball auch so annehmen, oder so annehmen.
Ich sage immer ganz gern, die Internal Martial Arts, die wir ausüben, diese Innere Kampfkunst, da gibt es Fußballer, die sind auf ihre Art auch internal. Das sieht man, z. B. an Zinedine Zidan, den ich sehr verehre, oder Messi, das sind für mich solche „internal“ Fußballer. Die nehmen den Ball an und gehen durch die Reihen, als wenn der Ball an denen dranhängt. Dahinter steckt sicher so viel Arbeit, und sicher ist auch „Was“ mit in die Wiege gelegt worden, aber die entdecken garantiert jeden Tag wieder was Neues, abseits vom profitorientierten Fußballgeschäft: Wie kann ich den Ball noch besser annehmen, damit er nicht so weit von mir wegspringt, sondern an mir kleben bleibt usw. Und so ist das sicher in allen anderen Bereichen auch, das ist immer wieder vergleichbar. Und daher: Internal, dieses innere Entdecken und Handeln, das macht die Einfachheit aus. Nicht mehr dieses Komplizierte, tausend verschnörkelte Sachen, die keiner mehr verfolgen kann, sondern das Einfache, dieses Unspektakuläre, die, wie Bruce Lee es formulierte, „Formlose Form“. Das ist für mich die Motivation, immer weiter zu machen, es noch einfacher zu machen und noch mehr in die Tiefe zu gehen. Das ist das, was ich erreichen möchte. Immer wieder back to the roots, immer wieder zurück. Wenn ich dann auf dem Sterbebett liege, dann muss ich vielleicht, bevor das Herz aufhört zu schlagen, mich noch einmal kurz hinstellen (wenn möglich) und sagen: „So, jetzt habe ich es verstanden (lacht). Das nehme ich jetzt mit nach OBEN und da übe ich weiter!“
Sehr schön! Das ist jetzt auch ein gutes Schlusswort an der Stelle! Vielen Dank Wolfgang für dieses Gespräch.
Bilder: Wolfgang Eikens, Dirk Wetter, Olaf Pachten
Zur Person:
Wolfgang Eikens, Jahrgang 1956, unterrichtet seit Anfang der 90er Jahre und bis heute Tai Chi Chuan. Darüber hinaus ist er begeisterter Jogger und läuft dreimal die Woche in der Eilenriede. Im Rahmen seiner beruflichen Weiterbildung an der IGS-Roderbruch lernte er Detlev Zimmermann kennen, mit dem er gemeinsam für einige Jahre die Schulbank drückte. Gemeinsam trainierten sie Ju-Jutsu bei Martin Höft und landeten schliesslich in der Einzelkämpferschule von Manfred Steiner, wo sie dann erstmals mit dem Chinese Boxing von Christofer Casey in Kontakt kamen. Wolfgang unterrichtet seit Mitte der 80er Jahre Chinese Boxing. Er lebt mit seiner Familie in Hannover und arbeitet als Physiotherapeut im Annastift.